China und Russland können sich nicht aus dem Weg gehen und marschieren doch nicht im Gleichschritt“ – dieser Satz im Klappentext befeuert die Lust, sich dem östlichen Eurasien zuzuwenden, unterlegt von zwei topografischen bzw. politischen Karten auf den Innenseiten der Buchdeckel. Dort finden sich jene Großimperien Russland und China, „keine Nationalstaaten, sondern heterogene Reiche mit multiethnischen Bevölkerungen“ (S.17). Dass „die zeitweilige Öffnung der Archive in China und Russland“ gänzlich neue Perspektiven ermöglichten (ebd.), erhöht die Neugier, und man verfolgt gespannt eine Beziehungsgeschichte über zehn Stationen hinweg bis zum Epilog. Im Kapitel »Peking 1618 – Wissen generieren« erfährt man von der Expedition Iwan Petlins 1618 nach China, die mit der Expedition Fjodor Baikows (1656) „den Grundstein für einen künftigen Austausch“ (S. 36) legte. Damit begann die wechselvolle gemeinsame Geschichte zweier eurasischer Kontinentalimperien“ (S. 26). Hier wie im ganzen Buch werden dem Leser immer wieder wie im Zeitraffer lange Zeiträume erschlossen, wie etwa von 988 bis ins 13. Jahrhundert: 988 ließ der Großfürst der Kyjiwer Rus‘, Wladimir (ukrainisch: Wolodymyr) das Volk von Kyjiw bei einer Massentaufe im Dnipro durch byzantinische Geistliche bekehren; im 13. Jahrhundert konnten dem »Mongolensturm« weder die Kyjiwer Rus‘, als deren Erbe sich Russland ebenso wie die heutige Ukraine sieht, noch das damalige China standhalten. (S.27-28) Erst dem im 12. Jahrhundert entstandenen Moskauer Fürstentum gelang im 16. Jahrhundert durch Eingliederung die Etablierung des ersten russische Zarenreiches, seit 1613 unter der Führung des Herrscherhauses der Romanows. Nach über lange Zeit informellen Beziehungen intensivierte sich im 17. Jahrhundert der Drang zur Erkundung und Expansion Europas und damit auch des Zarenreiches. Dies erst verbot den sibirischen Wojewoden weitere eigenständige Kontakte nach China hin, womit dem Leser vor Augen gestellt wird, dass die Frage der geopolitischen Machtergreifung über die östlichen Gebiete des eurasischen Kontinents zu jener Zeit noch offen war. Durch Parallelisierung gelingt es den Autoren, eine frühe Tradition imperialer Ideologien auf chinesischer wie auf russischer Seite nachzuzeichnen und zugleich auf grundlegende Unterschiede zu verweisen. Beide Imperien hatten einerseits »lange Arme und schwache Finger« und kolonisierten dann doch überwiegend ihre „kontinentalen Reichsperipherien“. (S. 31) So konnten Grenzstreitigkeiten nicht ausbleiben, deren Beilegung im Vertrag von Nertschinsk 1689, der zweiten Station des Buches, nicht nur der Hannoveraner Universalgelehrte Leibniz kommentierte, sondern in Paris auch Voltaire. Ein größeres Russland helfe, so meinten diese aufklärerischen Optimisten, eine „europäisch-chinesische Gesellschaft der Nationen zu konsolidieren“. So erst könne Europa als wirklicher global player auf der Weltbühne agieren.
Heute hingegen wird Russland im Westen eine andere Rolle zugedacht, so von dem Historiker Martin Schulze Wessel (Der Fluch des Imperiums. 2023), welcher bezogen auf Russlands Ambitionen im Westen (darunter die Ukraine und Polen) von einem „russischenIrrweg“ in der Geschichte spricht und fordert, dass sich „die Russen nicht mehr mit dem Imperium identifizieren und zugleich ihren eigenen Identitätsbegriff klären“ (dort S. 298). Auch wenn dann Russland „in der ersten Liga der Weltpolitik […] nicht mehr spielen“ werde (S. 20), könne es, nicht mehr „verblendet von seiner imperialen Tradition“ die Rolle eines „eurasischen Kanada“ einnehmen“. (S. 20-21) Einem ähnlichen Framing scheinen die Autoren des vorliegenden Buches zu folgen, wenn sie von Russland und China als von einer „autoritären Allianz“ oder einem „autoritären Block“ sprechen (S. 11 f.), auch wenn „eine gemeinsame Vision“ „vage“ bleibe und sich allenfalls in einer „Vorstellung eines »multipolaren« Systems von Großmächten“ finde, welche „die Welt in Einflusssphären aufzuteilen gedenke“. (S. 218) Dem entspricht die Charakterisierung der 2001 gegründeten Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) als „autoritärer Verbund, der die bestehende Weltordnung aus den Angeln zu heben trachtet“. (S. 232)
Die Ambivalenzen im Verhältnis Russland-China finden sich von Station zu Station, im Vertrag von Aigun 1858, dem ersten der vielen »ungleichen Verträge«, in dem China, zugleich Angriffen Großbritanniens und Frankreichs ausgesetzt, das linke Amur-Ufer an Russland abtrat (S. 65). So thematisieren die Autoren Russlands »Fernen Osten« und die nicht zuletzt wirtschaftliche „Durchdringung der chinesischen Reichsperipherie“ (S.70), die man übrigens in der deutschen Wehrpolitik gerne als „das Gelbe Vorfeld“ bezeichnete, nicht ohne in den 1940er Jahren dort eigene Ambitionen zu verfolgen.
Trotz des prägenden russischen Einflusses bei der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas im Jahre 1921 blieb das Verhältnis bei aller beschworenen »Freundschaft« angespannt über die Gründung der Volksrepublik 1949 hinaus. Doch China war zunächst abhängig, was im Jahr 1950 zur nicht ganz freiwilligen Bereitstellung von Truppen für das Korea-Abenteuer führte. Bei genauerem Hinsehen konnte auch damals schon von einer „kommunistischen Allianz als geschlossener Block“ (S. 132) nicht wirklich die Rede sein, was sich dann bei der sogenannten „Entstalinisierung“ in Russland 1956 ebenso wie im sino-sowjetischen Grenzkrieg von 1969 zeigte.
Dem Umstand, dass zu allen aufgerufenen Stationen unterschiedliche Blicke und Deutungen möglich sind, werden die Autoren jeweils in ausführlicheren Nachbemerkungen zu jedem Kapitel gerecht. Die seit der Gründung der Volksrepublik dichtere und die andere Hälfte des Buches einnehmende Darstellung entfaltet nicht nur die fortdauernde Ambivalenz im Verhältnis der beiden Reiche zueinander, sondern wirft immer auch Licht auf die sich verschiebende Balance, die seit 1989 von „dem Primat strikter Gleichheit“ gekennzeichnet ist (S. 212), während in den letzten beiden Stationen, im Kontext der 2001 gegründeten Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), China bereits als der „Taktgeber“ erscheint und nach dem Einmarsch in die Ukraine sich „die russische Regierung endgültig in eine Abhängigkeit von China geführt“ habe. (S. 251) Seither entwickele sich trotz aller Beteuerungen eine distanzierte Haltung zu Russland, und zugleich kommentiere eine nationale Propaganda noch im März 2022, die USA hätten die „Lunte“ für den heutigen Krieg in der Ukraine gelegt, „um Russland zu unterdrücken und einzukreisen“.
Zu Recht betonen die Autoren, dass die Vergangenheit „keine Muster für die Deutung der Gegenwart oder gar für eine Prognose der Zukunft“ liefert (S. 260). Wenn sie aber wiederholt darauf hinweisen, dass sich China und Russland einander nicht entziehen können und einander brauchen, stellt sich die Frage, ob die USA, wenn sie China einhegen wollen, diesem mit Russland zusammen als einem „autoritären Block“ gegenüber treten oder nicht doch besser nach der Devise divide et impera verfahren sollten. Die hier facettenreich geschilderte und auch den Strategen in den USA bekannte ambivalente Allianz zwischen den beiden Reichen Russland und China – manche sprechen lieber von „Imperien“ – könnte in Europa ein erneutes Interesse an einer Sicherheitsordnung wecken, die nicht auf Russland als ein „eurasisches Kanada“ zielt, sondern durch Stärke und vor allem durch Beziehungspflege und Vertrauensbildung gewährleistet wird. Solange China mehr noch als Russland ein Auseinanderfallen seiner Regionen fürchtet, werden sich beide, Russland und China, im Interesse ihrer territorialen Integrität aufeinander verlassen wollen.
*Helwig Schmidt-Glintzer ist Prof. em. für Ostasiatische Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Göttingen und u.a. Autor von China. Vielvölkerreich und Einheitsstaat (1997). Er veröffentlichte zuletzt Chinas leere Mitte. Die Identität Chinas und die globale Moderne (2018), Der Edle und der Ochse. Chinas Eliten und ihr moralischer Kompass (2022) sowie Ironie und Wahrheit. Theorie einer weltoffenen Verständigung (2024).