POLITIK I TikTok – anderen verbieten, aber selber nutzen

Am Sonntag des Super Bowl hatte US-Präsident Joe Biden eine ungewöhnliche Premiere. Er trat in einem kurzen Video auf TikTok auf. In lockerer Freizeitkleidung posierte er vor der Kamera und beantworteet ein paar kurze Entweder-Oder-Fragen zu diesem Football-Finale. Und am Schluss fragte die Stimme aus dem Off: „Biden or Trump?“ Biden antwortete: „Machst du Witze? – Biden.“

Als ich zum ersten Mal von diesem TikTok-Auftritt hörte, dachte ich, das Video sei ein Fake aus chinesischer oder russischer Produktion. Denn hat nicht dieser Joe Biden schon 2022 veranlasst, dass TikTok aus den Handys aller amerikanischen Bundesbediensteten entfernt wird? Und wollen nicht Abgeordnete der Demokraten und Republikaner am liebsten TikTok verbannen? Denn TikTok – das weiß inzwischen fast jeder – gehört dem chinesischen Konzern ByteDance. Und dieser ist per se suspekt, denn chinesische Unternehmen spionieren ja gerne und liefern die Daten umgehend nach Beijing.

Und nun tritt Biden selbst auf TikTok auf. Der Grund, warum er bzw. sein Wahlkampfteam das tut, ist klar: Es sollen damit junge Wähler angesprochen werden, die Biden dringend für seine Wiederwahl braucht. Aber die erreicht man nicht auf Wahlveranstaltungen oder über die etablierten Medien, sondern auf den sozialen Medien, insbesondere über TikTok. Rund 170 Millionen überwiegend junge Amerikaner nutzen TikTok. Das Wahlkampfteam erklärt Bidens Auftritt damit, dass man „continue meeting voters where they are“.

Man kann das auch Doppelmoral nennen. Sie wird aber nicht nur in den USA, sondern auch in Europa praktiziert. Im Februar 2023 verbannte erst die Europäische Kommission TikTok von den Diensthandys ihrer Mitarbeiter. Kurze Zeit später folgten der Ministerrat und das Europäische Parlament. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola „strongly recommended“ auch allen Abgeordneten, sich von TikTok zu verabschieden. Doch schon damals weigerte sich die European Peoples Party (EPP, in Deutsch: Europäische Volkspartei, EVP). Ihr Sprecher Pedro López sagte: „I think it is absurd to abandon the highest-growing social networking in Europe.” Die EPP – der die CDU und damit die Partei Ursula von der Leyens angehört – betrieb ihren TikTok-Account (eppgroup) weiter und bringt es inzwischen auf 57 400 Follower. Im Vorfeld der Europawahlen Anfang Juni legen sich immer mehr Abgeordnete und solche, die es werden wollen, TikTok-Accounts zu. Zu ihnen gehört auch die deutsche Grünen-Abgeordnete Anna Cavazzini (anna_cavazzini). Gegenüber Politico sagte sie zu ihrer Rechtfertigung: „We, as Greens, have been very, very critical towards TikTok, like all the EU institutions. (But) if you want to reach young voters as a progressive candidate, we also have to be on TikTok.” Auch die europäischen Grünen sind inzwischen bei TikTok (europeangreens), die Sozialisten (pes_pse) wie die Liberalen (aldeparty) haben schon mal einen Account, posten aber noch nichts. TikTok selber schätzt, dass jeder dritte Europaparlamentarier bei TikTok vetreten ist. Der Grund ist wie bei Biden: Parteien wie Kandidaten wollen so junge Wähler erreichen, zumal bei dieser Europawahl in einigen Ländern (darunter auch Deutschland) das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt wurde.

Ach übrigens: Am 19. Februar leitete die EU-Kommission eine Untersuchung gegen TikTok ein, weil es sich nicht an Jugend- und Datenschutz halte.

Info:

Biden ist bei TikTok unter dem hashtag bidenhq:  https://www.tiktok.com/@bidenhq?lang=en

Der Politico-Artikel ist hier: https://www.politico.eu/article/how-europe-learned-to-stop-worrying-and-love-tiktok-china-bytedance/

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