POLITIK I Von Asien lernen?

Sonntagabend Ende November: Talkshow Anne Will. Es treten auf bzw. es sitzen da: Die üblichen Verdächtigen wie Christian Lindner, Michael Müller und Markus Söder. Und mittendrin Vanessa Vu, Redakteurin bei Zeit Online. Nach exakt 16:48 Minuten darf sie zum ersten Mal etwas sagen. Sie sagt unbequeme Wahrheiten. Sie sagt das, was sie ein paar Tage zuvor in ihrer Kolumne „Verbohrt und arrogant“ geschrieben hat. Dass Deutschland von einem Lockdown zum anderen stolpere. Dass wir von Asien nichts lernen wollen. Dass sie jetzt lieber im viel sichereren Vietnam leben würde, im Land ihrer Eltern. Sie frage sich, warum wir in einem angeblich so weit entwickelten, hochtechnologisierten Land das Virus nicht in den Griff bekommen.“ Gute Frage. Berlins Regierender Bürgemeister Müller antwortet: „Wir sind viel besser durchgekommen als andere europäische Länder.“ Mag ja stimmen, aber Europa ist der falsche Maßstab. Asien ist der Maßstab. Aber darüber wurde dann nicht weiter diskutiert, sondern man verlor sich wieder im Kleinklein, ob man Museen öffnen soll, ob man FFP2-Masken kostenlos verteilen soll, und, und…

Diese Diskussion war symptomatisch: Man macht sich nicht die Mühe, sich mit dem erfolgreichen Asien auseinanderzusetzen. Das war zu Beginn der Pandemie so, das war zwischen erster und zweiter Welle so, und das ist auch heute noch so.   

Dabei hätte man es von Anfang wissen können, was im Fernen Osten gemacht wird. Seit dem 22. Januar sandte die Deutsche Botschaft in Beijing nahezu täglich Lageberichte über die sich stetig verschlimmernde Situation erst in Wuhan und dann im Rest-China, aber auch Infos über die Maßnahmen, die ergriffen wurden.  Aber wo landeten die Berichte? Das Auswärtige Amt antwortet in bestem Bürokratendeutsch gegenüber BuzzFeed News: Die Lageberichte seien „anlassbezogen an weitere Regierungsstellen weitergeleitet worden.“ Man sollte annehmen, dass das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine dieser Regierungsstellen gewesen sei. Doch was schreibt dieses dem anfragenden Redakteur von BuzzFeed News: „Dem BMG lagen die von Ihnen erwähnten täglichen Coronavirus-Lageberichte nicht vor.“  

Wir haben nichts gelernt. Wir wollten nichts lernen. Wir haben die Sommermonate nicht genutzt, um uns zu informieren. Man hätte analysieren können, was China, Japan, Südkorea, Taiwan und Vietnam besser gemacht haben. Man hätte auflisten können, was wir von dort übernehmen können und was nicht. Aber „die systematische Auseinandersetzung mit erfolgreichen asiatischen Strategien der Corona-Bekämpfung ist unterblieben“, schreiben die drei Wissenschaftler Marius Meinhof (Bielefeld), Maximilian Meyer (Bonn) und Marina Rudyak (Heidelberg) in dem sehr lesenswerten Cicero-Beitrag „Warum wir von Asien noch immer nicht lernen wollen.“ Wir hätten „dortige Erfolge reflexhaft abgelehnt“.  Das Trio fragt sich deshalb schon eher rhetorisch: „Muss die Lernfähigkeit westlicher Gesellschaften, ein Merkmal er europäischen Aufklärung, grundsätzlich in Zweifel gezogen werden?“  Wir im Westen fühlen uns nach wie vor überlegen: „Wir beschreiben das Andere als tribalistisch, rückständig, spirituell, um uns unserer eigenen Identität als individualistisch, fortschrittlich und rational zu versichern“, resümieren die Autoren. Das war jetzt ein bisschen arg akademisch. Deshalb übersetze ich es in eine Sprache, die jeder versteht: Steigt im Westen von eurem hohen Ross herunter und begegnet dem Osten auf Augenhöhe.

Info:

Die Lageberichte der Deutschen Botschaft – interessante Dokumente der Zeitgeschichte – kann man hier nachlesen: https://assets.documentcloud.org/documents/7295716/Coronavirus-Lageberichte-der-deutschen-Botschaft.pdf

Die Kolumne von Vanessa Vu ist hier: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-11/umgang-corona-arroganz-asien-vietnam-infektionsgeschehen-erfolg

Den Artikel von Meinhof, Meyer und Rudyak findet sich unter: https://www.cicero.de/aussenpolitik/corona-lockdown-asien-china-taiwan-japan-westen

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