Die Chinesen reisen anders. An jedem Reisetag haben sie ein übervolles Programm. Sie starten alle zur gleichen Zeit und folgen denselben Routen, wie sie im „Little Red Book“, Chinas Instagram, beschrieben sind. Dass sie dadurch überall gleichzeitig ankommen, scheint niemanden zu stören. Sie essen früh und schnell, sowohl mittags als auch abends. Die ohnehin knappe Zeit am Esstisch verbringen sie meist mit ihren Smartphones. Doch das bedeutet nicht, dass sie ungesellig wären: Nach dem Abendessen sitzen sie in Gruppen zusammen und spielen Karten – unabhängig davon, wie spektakulär die Umgebung ist. Noch mehr Freude und Ausgelassenheit zeigt sich tagsüber beim gegenseitigen Fotografieren. Dabei wird gelacht und gesungen.
Der deutsche Bildungsbürger ist per definitionem für Vielfalt und Inklusion. Doch wehe, wenn er auf Reisen solche Verhaltensweisen wie bei den Chinesen beobachtet. Dann kann er eine gewisse Abneigung, gepaart mit spitzzüngigen Bemerkungen, kaum unterdrücken. Schließlich wissen wir doch, wie man „richtig“ reist. Ich gehöre als inzwischen eingebürgerter Bildungsbürger längst auch zu dieser Spezies. Deshalb schüttelte ich eines Abends den Kopf und sagte zu Frau Li, die neben mir saß: „Ich verstehe es nicht.“ Frau Li ist Besitzerin der Ferienanlage im Nationalpark Gaoligong Mountain. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt sie 18 Gästezimmer und hat zahlreiche langjährige Stammgäste. Ich wiederholte: „Ich verstehe es nicht.“ Dabei zeigte ich auf den klaren Sternenhimmel über uns. „Warum spielen sie jetzt Karten, wenn man hier draußen bei 18 Grad die Milchstraße bewundern könnte?“
Kurz zuvor hatte Frau Li eine Reisegruppe aus Hangzhou, die wieder im Garten Karten spielen wollte, elegant in ein provisorisches Spielzimmer geführt, ausgestattet mit frischem Tee und Trockenfrüchten aus eigener Herstellung. Danach knipste sie alle Lichter im Garten aus und setzte sich zu uns. „Die Teilnehmer dieser Gruppe war schon vor Covid meine Gäste. Ich kenne sie gut“, sagte sie. Frau Li hatte nur die Grundschule besucht, doch bei ihr hatte ich stets das Gefühl, dass sie genau wusste, wovon sie redet – seien es ihr Business, die vorbeiziehenden Glühwürmchen vor uns oder ihre Karten spielenden Gäste.
„Anfangs war ich auch irritiert“, fuhr sie fort. „Sie nehmen die besondere Schönheit der Umgebung kaum wahr.“
„Genau das“, pflichtete ich ihr bei. „Aber wissen Sie, für viele geht es gar nicht darum, Neues zu entdecken und sich Zeit zu nehmen, um es zu genießen. Sie reisen, um ihre sozialen Bindungen zu stärken. Das Reisen ist Mittel zum Zweck, nicht das Ziel. Und sie sind glücklich dabei. Das sehen Sie doch. Ist das nicht auch schön?“
Eine so schlichte wie effektive Lektion über chinesische Verhaltensweisen hatte ich schon lange nicht mehr erteilt bekommen – und das ganz beiläufig unter dem Sternenhimmel von Yunnan. Mein eigenes Reiseverständnis änderte das nur wenig. „Reisen ist die Sehnsucht nach dem Leben.“ Die (allermeisten) Chinesen kennen Tucholsky (und diesen Spruch) nicht. Sie reisen anders, folgen einer anderen Lebenslogik.
Dieses ständige Bewerten und Vergleichen, dieses „Ich bin offen für alles, solange es in mein Bild passt“, hat mich nach über 20 Jahren in Deutschland (und als Manager!) stark geprägt. Die Weisheit der offenherzigen Frau Li tat mir gut. Ihr Dorf trägt übrigens den poetischen Namen „Hundertblumen-Hügel“ (百花岭).
Ich gebe zu, dass ich mich unwohl fühle, wenn ich pauschal von „den Chinesen“ oder „den Deutschen“ spreche, wie ich es oben mehrfach getan habe. Verallgemeinerungen leisten selten einen guten Dienst zur Verständigung. Zum Glück lässt sich das Bild der synchron reisenden Chinesen leicht durch andere Begegnungen etwas korrigieren.
Ein zum Wohnmobil umgebauter Mercedes-Van zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Er stand unweit eines Feldwegs auf einer freien Fläche. Ein paar Schritte weiter entdeckte ich zwei ähnliche Fahrzeuge. War das ein Campingplatz? In den letzten Jahren war die Präsenz chinesischer Aussteller auf dem Caravan Salon Düsseldorf überraschend stark. 2025 dürfte sich dieser Trend fortsetzen. China stößt auch in diese Nische vor. Aber wer fährt in China mit dem Caravan übers Land?
Ein Ehepaar aus Chengdu erklärte mir, dass sie bereits seit drei Wochen unterwegs waren und in dieser Zeit 2500 Kilometer zurückgelegt hatten. Er, 61, und sie, 56, sind frisch in Rente. Ihre Reisen mit dem Wohnmobil begannen sie erst 2023. „Viele unserer Freunde haben schon vor uns angefangen“, erzählten sie. „Es ist entspannt, individuell und günstiger.“ Ein typischer Wohnmobilbesitzer in Deutschland hätte wohl das Gleiche gesagt. „Das hier ist natürlich kein offizieller Campingplatz“, erklärten sie. „Aber die Menschen in Yunnan sind entspannt. Am Tag unserer Ankunft kam der Dorfvorsteher vorbei, begrüßte uns und fragte, ob uns etwas fehle. Das war nett. Uns fehlt es an nichts.“ Sie strahlten.
So ist es oft in China, wenn ein neuer Industriezweig, ein neues Geschäftsfeld und – wie hier – eine neue Lebensart entsteht: informell, frei und schnell wachsend. Chinas Demographieproblem – die zunehmende Vergreisung – ist eben nicht nur eine Belastung für die Volkswirtschaft. Die „Silver Economy“ birgt auch ein enormes Wachstumspotenzial. Ähnlich wie in Deutschland hat ein Teil der Rentnergeneration in China eine größere Kaufkraft als die Jüngeren. Sie investieren weniger in Luxustaschen oder teure Kosmetik, dafür mehr in Gesundheit und Freizeit. Es würde mich nicht wundern, wenn die europäischen Luxuskonzerne LVMH oder Kering eines Tages einen Luxus-Wohnmobil-Hersteller in ihr Portfolio aufnehmen. Luxus ist schließlich da, wo Kaufkraft und Sehnsucht zusammentreffen.
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Was Wan Hua Zhen bedeutet und wer der Autor ist, erfahren Sie hier: https://www.chinahirn.de/2024/07/08/was-bedeutet-wan-hua-zhen-der-kolumnist-erklaert-und-stellt-sich-vor/
Und noch zwei Zusatz-Infos zum obigen Artikel:
Zum Caravan-Volk gehört auch die 60jährige Su Min. Die BBC hat sie gerade porträtiert: https://bbc.com/news/articles/cr4rkz5nz69o Und sie hat auch einen Blog (allerdings auf Chinesisch):