Vergangene Woche standen in der internationalen Politik zwei Städte im Mittelpunkt: Washington und Kasan. In der amerikanischen Hauptstadt traf sich die eher westlich orientierte Finanz- und Politik-Elite bei der traditionellen Herbsttagung von IWF und Weltbank. Im russischen Kasan versammelten sich die Führer einer Gruppierung, die diesen beiden Institutionen gegenüber eher kritisch eingestellt ist, weil sie ihrer Meinung nach vom Westen – das heißt von den USA und der EU – dominiert sind. Die Bezeichnung der Gruppierung lautet BRICS. Das sind die Anfangsbuchstaben der fünf Länder Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Aber in Kasan traf man sich erstmals unter dem Rubrum BRICS+. Hinter dem Plus verbergen sich vier weitere Staaten, die seit Anfang 2024 Mitglied des Clubs sind: Ägypten, Äthiopien, der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Und weitere 13 „Partnerländer“ sind in der Warteschleife, darunter die vier südostasiatischen Staaten Indonesien, Malaysia, Thailand und Vietnam sowie die Türkei. Präsident Tayyip Erdogan war deshalb auch in Kasan.
Was formiert sich da? Ein anti-westlicher Block unter Führung eines starken Chinas? Staatschef Xi Jinping sagte in Kasan: “The BRICS cooperation mechanism is the most important platform for solidarity and cooperation among emerging-market countries and developing countries in the world today.” Aber er – wie auch Gastgeber Wladimir Putin – vermieden, BRICS+ als anti-westliches Konstrukt zu bezeichnen. Immer wieder war die Formulierung zu hören: Wir sind non-Western, nicht anti-Western. BRICS als einen anti-westlichen Block zu bezeichnen, sei „eine grobe Vereinfachung“, schreibt auch die Merics-Analystin Eva Seiwert in einem Artikel für The Diplomat. Es gebe keinen Grund für den Westen, einen starken geopolitischen anti-westlichen Block zu fürchten. Zu heterogen sei diese Gruppierung. Klar: “Some members, chief among them China and Russia, want to position the grouping against the West and the global order crafted by the United States,” schreiben Alexander Gabuev (Carnegie) and Oliver Stuenkel (Getulio Vargas Stiftung) in Foreign Affairs. Aber andere BRICS-Staaten, wie zum Beispiel Brasilien und Indien, würden diese Ambitionen nicht teilen. Sie würden aber BRICS als ein Instrument verstehen, um die gegenwärtige eher unipolare Weltordnung zu demokratisieren und zu reformieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei Indien, ein erfahrener Wandler zwischen den Welten. „India is the most significant player in BRICS when it comes to balancing between East and West”, schreibt Stefan Wolff, Professor für Internationale Beziehungen an der University of Birmingham, in Asia Times.
Indiens politische Bedeutung hat kurz vor dem Gipfel in Kasan noch zugenommen, denn wenige Stunden zuvor wurde verkündet, dass Indien und China sich bei ihren Grenzstreitereien auf ein Abkommen geeinigt haben, das zumindest die Patrouillen beider Armeen jenseits der nach wie vor undefinierten Grenze zwischen beiden Staaten regelt. „Dies ist der erste Schritt auf einem langen Prozess zur Normalisierung“ schreibt der indische China-Experte Manoj Kewalrami. Der nächste Schritt war dann das Treffen der beiden Präsidenten Modi und Xi in Kasan. Der Austausch, der rund 50 Minuten dauerte, war der erste seit fünf Jahren. Xi sprach danach zum ersten Mal von Indien als einem „major country“, fiel Kewalrami auf.
Eine weitere Annäherung der beiden asiatischen Mächte könnte auch die Balance innerhalb von BRICS verändern. Bislang war eher die Achse China-Russland dominierend. Wolff schreibt: “A warming of relations between China and India could generate more momentum for BRICS to deliver on its ambitious agenda to develop, and ultimately implement, a vision for a new global order.”
Wie diese neue globale Ordnung aus Sicht der BRICS aussehen könnte, ist aber bislang nicht mal in Ansätzen erkennbar. Aber immerhin können sich die BRICS+-Staaten darauf einigen, dass das internationale Währungssystem zu stark vom Dollar dominiert wird und es deswegen Alternativen braucht. Keith Johnson kommentiert in Foreign Policy: “All (BRICS members) share, more or less, an understandable desire to escape the tyranny of the dollar. Dethroning the dollar has been, and will remain, a central goal of BRICS.“ Aber wie diese Ablösung erreicht des Dollars erreicht werden soll, dazu stand wenig Konkretes in der 33 Seiten langen Kasan Declaration.
Die parallel tagenden Damen und Herren beim IWF in Washington konnten also beruhigt sein. Vorerst jedenfalls. Aber ernst nehmen sollten sie das immer größer werdende Bündnis BRICS+ oder bald BRICS++. Hier formiert sich ein Sammelbecken vom Westen enttäuschter Staaten – sei es aus ideologischen Gründen (China, Russland) oder wegen mangelnder Beachtung und Unterstützung (globaler Süden). Die beste Reaktion des Westens – vor allem der EU – wäre, sich endlich stärker dem Globalen Süden zuzuwenden.
Info:
Die Kazan Declaration im Wortlaut: http://static.kremlin.ru/media/events/files/en/RosOySvLzGaJtmx2wYFv0lN4NSPZploG.pdf
Ein guter Backgrounder über BRICS vom Council on Foreign Relations (CFR):
Der Artikel von Keith Johnson in Foreign Policy: https://foreignpolicy.com/2024/10/21/brics-russia-china-kazan-summit-west-dollar/
Der Artikel von Eva Seiwert in The Diplomat: https://thediplomat.com/2024/10/anti-western-or-non-western-the-nuanced-geopolitics-of-brics/