Was derzeit in China passiert, erinnert einen älteren Menschen wie mich an die 80er und 90er Jahre in Deutschland. Damals hatten wir mit Boris Becker und Steffi Graf zwei Weltklasse-Tenniscracks, die im Lande des Fußballs einen Tennisboom auslösten. Selbiges geschieht nun in China. Auslöser war Zheng Qinwen (21), die bei den Olympischen Spielen in Paris Gold im Einzel gewann. In der Euphorie um Zheng ging fast unter, dass Wang Xinyu (22) und Zhang Zhizhen (27) zudem Silber im Mixed holten. Außerdem gibt es mit Wu Yibing (24) einen männlichen Star, der immerhin schon ein ATP-Turnier in Dallas gewonnen hat.
Tennis kam zwar schon 1860 nach China, war aber lange Zeit ein elitärer Sport (ganz im Gegensatz zum viel populäreren Tischtennis). Unter Mao firmierte Tennis als bürgerlicher und revisionistischer Zeitvertreib. Als aber im Zuge der Reformpolitik über die Jahre und Jahrzehnte eine Mittelschicht heranwuchs, wurde Tennis gesellschaftsfähig. Allein zwischen 2006 und 2021 stieg die Zahl der Tennisspieler von zwei auf 20 Millionen. Rund 30 000 Tennisplätze soll es derzeit im Lande geben. Die Zahl wird sich nach den Erfolgen von Paris mit Sicherheit erhöhen, denn in China ist eine regelrechte „Tennis-Mania“ (Sportmarketing-Experte Adam Zhang) ausgebrochen. Tennisschläger von Wilson (der Marke von Zheng Qinwen) sind gefragt wie nie. Die Nachfrage nach Tennisunterricht explodiert. Plätze sind ausgebucht. Das TV-Publikum folgt aufmerksam den US Open, wo es nicht weniger als elf Spielerinnen und Spieler aus China ins Hauptfeld schafften. Zheng Qinwen hat inzwischen Kultstatus. Nachdem sie beim Turnier in Cincinnati früh rausflog, flog sie umgehend nach Beijing, um zum Empfang der Olympioniken mit Xi Jinping dabei zu sein.
Während Zheng Qinwen (Spitzname: Queenwen) offenbar den Ruhm genießt, tun sich einige Tischtennis-Spieler schwer mit dem Starrummel. In den vergangenen Jahren hat sich in dieser sehr populären Sportart eine Fankultur entwickelt, die vielen Spielern und Spielerinnen zu weit geht. Sie werden auf Flughäfen bedrängt, beim Training beobachtet und sogar bis aufs Hotelzimmer verfolgt. Die Fans reisen scharenweise zu allen Turnieren und geben horrende Summen für Tickets aus. Sie veranstalten zum Geburtstag ihrer Idole gigantische Events. So wurde für den ehemaligen mehrfachen Weltmeister Zhang Jike in seiner Heimatstadt Qingdao eine Lichtershow veranstaltet. 53 Gebäude auf einer Strecke von 5,2 Kilometern wurden angestrahlt, 330 Drohnen stiegen auf und zeichneten „Happy Birthday Zhang Jike“ in den abendlichen Himmel. Ob ihm das gefallen hat, ist nicht überliefert. Dokumentiert auf Videos ist hingegen der Gefühlsausbruch des Wang Chuqin (24), ebenfalls mehrfacher Weltmeister. Als den Spitzenspieler im Oktober vergangenen Jahres eine Fanschar auf einem chinesischen Flughafen bedrängte, schrie er: „Stop filming me, or I’ll call the police.“ Später sagte er: „On the court, I’m an athlete, off the court, I’m just an ordinary person.”
Welch seltsame Formen der Fankult in Chinas Tischtennisszene inzwischen angenommen hat, zeigte sich während des Frauenfinales bei den Olympischen Spielen in Paris. Dort standen sich die beiden Chinesinnen Chen Meng (30) und Sun Yingsha (23) gegenüber. Man hatte nicht das Gefühl, dass sich hier die Spielerinnen eines Teams gegenüberstanden. Die chinesischen Fans der sehr populären Sun waren deutlich in der Mehrzahl. Schrien ein paar Chinesen „Go Chen Meng“, wurden sie sofort von der Gegenseite ausgebuht. Es nützte freilich nichts. Chen Meng gewann das Finale mit 4:2.
Info:
Hier ein Gespräch mit Professor Simon Chadwick über den chinesischen Tennisboom: https://www.youtube.com/watch?v=7VSZHnFRLaA