CHINESISCHER ALLTAG I Das harte Los der Wanderarbeiter

Es ist frühmorgens an einer Kreuzung in der Zwölf-Millionen-Stadt Zhengzhou, Hauptstadt der zentralen Provinz Henan. Mehrere tausend Männer und wenige Frauen stehen dort in Arbeitskleidung. Viele tragen Schutzhelme. Eine Demo? Ein Streik? Nein, es sind Leute, die Arbeit suchen – zumindest für einen Tag. Um diese frühe Zeit findet hier jeden Morgen der Liuwan Labor Market statt. Ma Jichao, Reporter bei der Online-Zeitung Yicai, hat über diesen Markt eine Reportage geschrieben und das Portal Pekingnology hat sie ins Englische übersetzt.

Ma hat einen Arbeitssuchenden begleitet: Zhang Zhong. Er ist schon seit über 20 Jahren Wanderarbeiter. Seine Familie – Frau und zwei Kinder – wohnen in einer Provinz im Westen des Landes. Regelmäßig überweist er Geld nachhause, um seinen Kindern die Schule zu ermöglichen, seine Eltern zu unterstützen. Und er spart, um sich irgendwann ein kleines Geschäft in der Heimat leisten zu können. Im ersten Halbjahr 2023 hat er gut verdient. Über 30 000 Yuan (rund 3800 Euro). Doch dann erlitt sein Vater einen Schlaganfall. Zhang musste viel Geld für die Behandlung zahlen. Viel blieb für ihn und seine Familie nicht mehr übrig. Und inzwischen hat er auch keinen längerfristigen, d. h. mehrmonatigen Vertrag mehr. Er ist jetzt Tagelöhner – ein antiquierter Begriff im Westen, aber in China nach wie vor Alltag.

So auch an diesem Morgen. Zhang ist um vier Uhr aufgestanden, um rechtzeitig beim Liuwan Labor Market zu sein. Dort braust ein Mini-Van heran. Aus der offenen Tür schreit ein Mann: „7 Leute, einfache Arbeit, 130 Yuan am Tag“. Das sind umgerechnet 16,50 Euro. Ruckzuck ist der Mini-Van besetzt. Zhang kam zu spät. Er kam den ganzen Tag zu spät. Wieder ein Tag ohne Arbeit und ohne Geld. Zhang zeigt dem Yicai-Reporter sein WeChat Wallet, seine mobile Geldbörse. 87,12 Yuan sind dort noch drauf. Knapp elf Euro. Davon muss er in den nächsten Tagen leben, überleben.

Es ist ein hartes Leben als Wanderarbeiter. Bis vor wenigen Jahren waren sie in den Städten des Ostens und Südens gefragt. Sie hatten zwar wenig Rechte, aber meist ein regelmäßiges Gehalt. Ihnen, den unbekannten Helden der Arbeit, hatte China seinen Aufstieg zu verdanken. Sie bauten die Wohnungen und die Infrastruktur, durch ihre Arbeit wurde China zur Fabrik der Welt. Doch jetzt – in Zeiten von Immobilienkrise und sinkendem Wirtschaftswachstum – werden viele nicht mehr gebraucht. Viele gehen zurück in die Heimat, aber die meisten – wie eben Zhang Zhong – bleiben. Nach Angaben des Nationalen Statistischen Büros sind noch knapp 296 Millionen Chinesen als Wanderarbeiter unterwegs. Viele – vor allem am Bau – kämpfen um die Jobs. Das drückt die Löhne. Zhang erzählt, dass es früher bis zu 350 Yuan pro Tag gab. Heute sind es oft nur 180 oder gar 130 Yuan. Und wer älter als 60 Jahre alt ist, erhält maximal 80 bis 100 Yuan. Diese Gruppe der älteren Wanderarbeiter – jeder dritte ist über 50 Jahre alt – ist besonders gefährdet. Die meisten von ihnen haben weder Alters- noch Krankenversicherung. Über ihr Schicksal veröffentlichte

Anfang des Jahres – am 8. Januar – der Internetkonzern NetEase einen knapp achtminütigen Doku-Kurzfilm. Der englische Titel lautet „Working Like This for 30 Years“. Darin treten Frauen und Männer auf, die 30 Jahre und mehr als Wanderarbeiter malocht haben und nun nicht wissen, wie sie ihren weiteren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Ein trauriges Dokument, das man auch versteht, wenn man nicht Chinesisch sprechen und lesen kann. Die chinesischen Zensurbehörden haben sich den Film auch angeschaut und deshalb war er nach dem 9. Januar bei NetEase nicht mehr zu sehen.

Info:

Hier der übersetzte Artikel in Yicai: https://www.pekingnology.com/p/migrant-workers-waiting-for-work?utm_source=post-email-title&publication_id=47580&post_id=140548448&utm_campaign=email-post-title&isFreemail=true&r=1cv&utm_medium=email Und hier der Doku-Kurzfilm „Working Like This for 30 Years“ :https://www.youtube.com/watch?v=mEzjWLG2zL8

Bericht des Nationalen Statistik-Büros zu Wanderarbeitern (in Chinesisch): https://www.stats.gov.cn/sj/zxfb/202304/t20230427_1939124.html

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