Gunter Schubert (60) ist seit 2003 Professor für Greater Chinas Studies an der Universität Tübingen. Seit 2008 ist er dort auch Direktor des European Research Center on Contemporary Taiwan (ERCCT). Zuletzt veröffentlichte Schubert „Taiwan During the First Administration of Tsai Ing-Wen: Navigating Stormy Waters”, Routledge (2022). Am 14. März erscheint von ihm bei C. H. Beck eine „Kleine Geschichte Taiwans“. Schubert wird auch Mitglied der gerade vom Auswärtigen Amt beschlossenen Deutsch-Taiwanischen Dialogplattform.
Die kommenden Wahlen in Taiwan erzeugen weltweit hohe Aufmerksamkeit. Manche Beobachter stufen sie als historisch ein. Sie auch?
Dieses Label wird schnell und häufig vergeben. Ich halte aber die Präsidentschaftswahlen nicht für historisch, sie sind sogar vergleichsweise unwichtig. Denn die Situation in der Taiwan-Straße hat sich in den vergangenen Jahren massiv verändert. Die Parteien in Taiwan haben keine echte Bedeutung mehr in dem Konflikt. Es kommt vielmehr alles auf die USA an. Zwar versucht die KMT der Bevölkerung einzureden, dass man Spielräume in der Chinapolitik hat, die sehe ich aber nicht. Die KMT hat nicht mehr Spielräume als die DPP. Wenn von einer historischen Wahl gesprochen werden kann, dann handelt es sich um die Parlamentswahl…
…die ja parallel stattfindet, was oft vergessen wird. Warum ist sie historisch?
Weil mit der TPP zum ersten Mal eine relativ starke dritte Partei in das Parlament einziehen wird, die nicht zweifelsfrei auf das grüne oder blaue Lager zu verrechnen ist. Sie dürfte eine Swing-Vote-Politik verfolgen, also für wechselnde Mehrheiten im Legislativ Yuan sorgen. Das könnte den Weg zu zukünftigen Regierungskoalitionen ebnen, und das wäre in der Tat etwas Neues.
Im Wahlkampf versuchte die TPP ja bereits mit der KMT zu „koalieren“, um als einheitliche Opposition gegen die DPP anzutreten. Aber das ist gescheitert. Warum?
Es ging lediglich um die Frage eines gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten, und nicht um inhaltliche Fragen. Am Ende wollten weder Hou You-ih von KMT noch Ko Wen-je von der TPP akzeptieren, die Nummer Zwei zu sein. Die KMT ist die größere Partei und sah sich deshalb nicht in der Juniorrolle. Die TPP hingegen wollte sich nicht der KMT unterordnen, denn damit hätte sie sich bei ihrer Kernwählerschaft unglaubwürdig gemacht, die auf eine unabhängige Kraft jenseits von KMT und DPP setzt.
Warum ist denn die TPP so stark geworden und kann sich als dritte Partei neben dem grünen Lager (DPP) und dem blauen Lager (KMT) etablieren?
Sie profitiert von der Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung vom etablierten Parteiensystem und dem ideologisch festgefahrenen Konflikt zwischen grün und blau. Vor allem unter den jungen Wählern ist diese Haltung verbreitet. Der TPP-Kandidat Ko Wen-je spricht mit seiner unkonventionellen Art, die auch ein stückweit populistisch ist, eher die Jugend an. Er betreibt eher eine Medienshow als rationale Politik. Ich halte ihn für das Präsidentenamt nicht qualifiziert. In der China-Politik hat er kein Profil. Er spricht emotional von einer gemeinsamen chinesischen Familie. Das ist aber nur Symbolpolitik. Er hat keine Strategie und auch nicht genug kompetente Leute um sich herum, die ihn zielführend beraten könnten.
Haben denn die beiden anderen Parteien eine China-Strategie?
Die KMT kann eigentlich nicht viel mehr sagen als das, was sie immer gesagt hat. Sie will mit der Volksrepublik China wieder einen Dialog beginnen, vornehmlich auf der Grundlage des „Konsensus von 1992“. Sie positioniert sich erneut als die Partei, die allein mit China reden kann. Der größte Fehler der DPP sei, dass sie keinen Dialog mit China anstrebe. Doch es ist mehr als zweifelhaft, dass die KMT in Beijing diesbezüglich überhaupt noch ernst genommen wird. Die DDP mit ihrem Kandidaten Lai Ching-te wiederum will lediglich die Chinapolitik von Tsai Ing-wen fortsetzen.
Es gibt also keine Unterschiede in der China-Politik zwischen ihm und der Noch-Präsidentin Tsai Ing-wen?
Nein, die sehe ich nicht. Lai hatte einen Ruf als Hardliner in der China-Politik. Den hat er inzwischen abgelegt. Aber auch die DPP hat – wie ich eingangs erwähnte – nicht viel Spielraum in der China-Politik. Diese wird von den USA bestimmt und nicht von Taiwan. Die DPP hat den Vorteil, dass sie sagen kann, wir brauchen uns nicht zu verändern, wir sind im Moment in relativ gutem Einklang mit den USA. Allein die Frage der militärischen Strategie ist zwischen Taipei und Washington umstritten. Washington verlangt von Taipei den Erwerb von Defensivwaffen für asymmetrische Kriegführung, will aber ein Eingreifen in einen militärischen Konflikt in der Taiwanstraße nicht versprechen. Taipei wiederum will deshalb konventionelle Aufrüstung in allen Waffengattungen, um auch ohne die USA halbwegs für eine Auseinandersetzung mit der Volksbefreiungsarmee gewappnet zu sein
Alle Welt schaut auf den Taiwan-Konflikt und fragt sich: Wann greift China die Insel an?
Es gibt inzwischen unzählige Studien darüber, vor allen aus den Thinktanks der USA. Alles, was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass die Entscheidung darüber in Beijing fällt. Derzeit herrscht ein prekäres Gleichgewicht, ohne das eine Lösung des Konflikts in Sicht ist. Es ist ein sehr kluges Management nötig, um den Status quo zu erhalten. Dazu braucht es responsible leadership in den USA und in China. Die Frage, ob wir das über das Jahr 2024 hinaus bekommen, ist offen.
Sehen Sie diese verantwortlichen Politiker auch in Deutschland? Mit dem CDU-Abgeordneten Roderich Kiesewetter stellt der erste Abgeordnete die Ein-China-Politik in Frage.
Wer die „Ein-China-Politik“ infrage stellt, nimmt China das Vertrauen, dass der Konflikt zukünftig noch in irgendeiner für Beijing akzeptablen Form zu lösen sei. Man trägt dann dazu bei, dass das Misstrauen in Beijing steigt, und somit auch das Kriegsrisiko. Viele unserer Politikerinnen und Politiker, vor allem im Bundestag, sind offensichtlich der Überzeugung, dass China mit einem klaren Bekenntnis zu Taiwan in die Schranken gewiesen werden muss. Dazu gehört dann auch, die „Ein China-Politik“ zu torpedieren. Das ist leichtsinnig, zumal Deutschland in keiner Weise bereit und fähig wäre, Taiwan militärisch beizustehen. Die Konfliktkonstellation in der Taiwanstraße eignet sich nicht für wohlfeile Lippenbekenntnisse einer so genannten werteorientieren Außenpolitik, die zudem häufig auf einer fahrlässigen Vereinfachung des sino-taiwanischen Konfliktes beruht. Mit China wird wegen Taiwan, wie auch in jedem anderen Politikfeld, um jeden Meter Boden gerungen werden müssen – und zwar auf dem Boden der „Ein China-Politik“. Jenseits davon gibt es nämlich keine Halteseile. Leider fehlt es in der deutschen Politik noch an der notwendigen china- und taiwanpolitischen Kompetenz, diesen Tatbestand hinreichend gut zu verstehen.