GESELLSCHAFT I Nationale Sicherheit- Wie China schon die Jüngsten in die Pflicht nimmt, das Vaterland zu schützen und dabei einiges im Unklaren läßt / Von Imke Vidal

Derzeit ist die Änderung des chinesischen Spionageabwehrgesetzes in aller Munde. Das auf der Webseite des Nationalen Volkskongresses veröffentlichte Gesetz tritt am 1. Juli in Kraft und sorgt schon jetzt für allgemeine Verunsicherung. Bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes kam es laut dpa-Meldungen seit März 2023 mehrfach zu Razzia-ähnlichen Durchsuchungen, von denen gezielt ausländische Firmen in China betroffen waren. Der chinesische Staat wittert scheinbar überall Spionagetätigkeiten und sieht die nationale Sicherheit in Gefahr. Darum rückt die Gesetzesänderung den Schutz „nationaler Interessen“ weiter in den Vordergrund und damit auch den Schutz der „nationalen Sicherheit“ (国家安全) – ein thematischer Dauerbrenner, der sich wie ein roter Faden durch zahlreiche Reden von Xi Jinping zieht.

Gesetze sind bekanntlich mächtige Werkzeuge. Am mächtigsten sind sie, wenn sie mit Begriffen hantieren, die Raum für verschiedene Auslegungen lassen. Und diese sind auch in dem chinesischen Spionageabwehrgesetz der Anlass zur Sorge. Der Gesetzestext gibt beispielsweise keine Auskünfte über ein genaues Strafmaß, und insbesondere der Begriff „nationale Interessen“, um deren Schutz sich das Gesetz dreht, ist nicht näher definiert. Viel Interpretationsspielraum lässt auch der Geltungsbereich zu. Geschützt werden sollen schlicht „alle Dokumente, Daten, Materialien und Artikel, welche die nationale Sicherheit und Interessen betreffen“ (Xinhua). Es geht also nicht nur um eingestufte, etwa geheime Dokumente oder explizit um sensible Themen – um hier einen weiteren schwammigen Begriff zu bemühen. Ein Spionagevorwurf lässt sich nun quasi gegen jeden vorbringen, der in China arbeitet. Schon wird diskutiert, wo wohl die roten Linien verlaufen. Welche Daten dürfen ausländische Firmen künftig in China noch verarbeiten oder auch nur konsultieren? Was genau bedeutet eine Gefährdung der nationalen Sicherheit?

Damit zumindest in China darüber Klarheit herrscht, bemüht der Staat sich seit Jahren um die entsprechende Sensibilisierung der Bürger. Das passiert, wie so häufig, durch Slogans, die beispielsweise lauten „die nationale Sicherheit baut auf uns alle“ (国家安全靠大家) oder „für die nationale Sicherheit trägt ein jeder Verantwortung“ (国家安全人人有责). Mit speziellen Videos richtet man sich dabei an die unterschiedlichsten Zielgruppen. Und das nicht erst, seitdem die Änderung des Spionageschutzgesetztes beschlossen wurde. Seit einigen Jahren schon findet am 15. April der sogenannte „Volkserziehungstag zur nationalen Sicherheit“ statt (全民国家安全教育日), der sich in diesem Jahr zum achten Mal jährt. Es lohnt sich genau hinzusehen, was dann in China geschieht.

2022 veröffentlichte beispielsweise das Jugendliga-Komitee der Changsha-Universität anlässlich des nationalen Sicherheitstages ein Video, um die Studentenschaft zu mehr Sicherheitsbewusstsein zu erziehen.

In einem fünfminütigen Kurzfilm wird die fiktive Geschichte eines Studenten erzählt, der sich (manipuliert durch ausländische Einflüsse) dazu entschließt, geheime Informationen zu veröffentlichen. Der Film sieht in etwa so aus:

Zunächst sieht man einen Studenten vor dem Fernseher ausländische Sendungen ansehen. In der nächsten Szene lauschen andere Studenten in der Uni einer Professorin, die vor der Infiltration durch ausländische anti-chinesische Kräfte im Alltag warnt. Es folgt ein Gespräch zwischen den Studenten, in dem klar wird, dass sie nicht wirklich verstehen, wovon die Professorin spricht. Die Studentengruppe beschließt, gemeinsam zu essen. Einer der Studenten ruft seinen Zimmergenossen an. Dieser teilt mit, die anderen sollten ruhig ohne ihn essen gehen, er habe zu tun. Es ist der Student, der zu Beginn des Films die ausländische Fernsehsendung gesehen hat, und der nun gezeigt wird, während er im Studentenwohnheim allein an seinem PC sitzt und offenbar Staatsgeheimnisse verrät. Zunächst versendet er die Datei, dann druckt er sie auch noch aus und verteilt die Ausdrucke draußen. 

Als sein Zimmergenosse vom Essen nach Hause kommt, findet er draußen die Zettel und fragt sich kopfschüttelnd, wer solche Dinge verbreitet. Im Zimmer entdeckt er auf dem nicht passwortgeschützten PC seines Kommilitonen die fragliche Datei. Um die Sache noch eindeutiger zu gestalten, findet er auch noch Ausdrucke der Datei in der Schreibtischschublade des Freundes. Er stellt seinen Kameraden zur Rede. Doch dieser zeigt keine Reue. „Das ist meine Sache. Was geht Dich das an?“ schimpft er.

Nun plagen unseren Studenten Gewissensbisse. Wie soll er mit der Situation umgehen? Soll er den Fall melden? Nach anfänglichem Zögern tätigt er schließlich einen Anruf und schaltet die Behörden ein.

Am Filmende wird der nun doch schuldbewusst dreinblickende Student von freundlichen, ungefähr gleichaltrigen Uniformierten abgeführt. Sein Kommilitone, der den Fall gemeldet hat, nickt ihm noch einmal zu. Er hat das Richtige getan, lautet hier die Botschaft. Um diese Botschaft zu verstehen, braucht man nicht einmal Chinesisch zu verstehen, derart deutlich entfaltet der Film seine fragwürdige Wirkung. Im Abspann folgt noch schriftlich ein Appell an die „Studenten der neuen Ära“, im Sinne der nationalen Sicherheit jegliche Infiltration durch antichinesische Organisationen zu verhindern. Zu guter Letzt hört man eine Stimme sagen: „Die nationale Sicherheit zu schützen ist unsere gemeinsame Verantwortung“.

Doch nicht nur Studenten gehören zur Zielgruppe der Propaganda. Dass wirklich jeder Bürger der Volksrepublik gemeint ist, das zeigt ein weiteres Video: Unter dem Motto „Polizei und Bürger Hand in Hand“ veröffentlichte das Ministerium für Öffentliche Sicherheit am 15.04. (dem Tag der nationalen Sicherheitserziehung) dieses Jahr ein Video. Im Stile eines schlechten Werbefilms wird hier vom Schulkind über die Lehrerin, vom Ingenieur bis zum Arbeiter allen Beteiligten des chinesischen Entwicklungs- und Wohlstandswunders bescheinigt, es gebe kein schöneres gemeinsames Ziel als den Einsatz für den Schutz der nationalen Sicherheit. Da halten Schulkinder Plakate mit entsprechenden Aufschriften, da betont eine Lehrerin, man müsse von klein auf lehren, wie wichtig die nationale Sicherheit sei. Selbst Chinas Minderheiten erhalten im Glanz der nationalen Sicherheit den Heiligenschein der Propaganda-Macher. Zum krönenden Abschluss des Filmchens flimmert in goldenen Lettern der Satz über den Bildschirm: 国家安全 一切为了人民 一切依靠人民  „Nationale Sicherheit – alles für das Volk, alles durch das Volk.“ Das klingt beinahe nach Alexandre Dumas „Einer für alle, alle für einen“.

Und die Zielgruppen-Strategie macht in China auch vor den Allerkleinsten nicht halt. Dafür greift man tief in die Trickfilmkiste und kramt – wie könnte es anders sein – einen Pandabären als sympathische Hauptfigur hervor. Der Pandabär soll schon den jüngsten Zuschauern ein Gefühl für die Tragweite der nationalen Sicherheit vermitteln. Der kleine Panda, gekleidet in einer Generalsuniform aus dem alten China, steht auf der chinesischen Mauer, als ein Soldat vorbeikommt und ihn anspricht. Der Panda, der als „General“ angesprochen wird, reagiert nicht gleich. Auf die Frage, was denn los sei, sagt er, ihm sei von der Sonne wohl schwindelig geworden. „Prima, dass Du einen solchen Sinn für Prävention hast!“ lobt General Panda den Soldaten. „Je ruhiger die Zeiten, desto mehr müssen wir schon auf die kleinsten Probleme achten.“ Der Soldat erwidert: „Auch wenn wir keinen Krieg führen, müssen wir doch patrouillieren und Wache stehen, um die nationale Sicherheit zu schützen!“ Der Panda stimmt zu und macht sich auf den Weg zur Patrouille durch die Stadt. Dort findet er paradiesische Zustände vor und stellt fest: „Sie halten sich von den Flammen des Krieges fern und das Volk lebt und arbeitet glücklich und zufrieden. Es sind rosige Zeiten“.

Da kommt ein Kind mit einem Windrädchen vorbei und rezitiert: „Eine Nation sind zehn Millionen Familien, erst durch Bestehen der Nation gibt es die Familie, wenn nationale Sicherheit herrscht, lebt und arbeitet das Volk glücklich und alle lachen, haha! Doch von dem Windrädchen wird unserem Pandabären wieder schwindlig. Er beginnt sich zu drehen, fliegt durch Raum und Zeit und landet (mit roter Halsbinde, wie sie chinesische Schulkinder tragen) wieder auf der chinesischen Mauer. Der kleine Panda ist erstaunt. Schon wieder zurück? Es scheint, als müsste die Zeitmaschine noch verbessert werden. Da sieht er das Mädchen mit dem Windrad auf der Mauer stehen. Er erinnert sich an das friedliche China aus der Vergangenheit, das er bereist hat und ruft: „Eine Nation sind zehn Millionen Familien, erst durch Bestehen der Nation gibt es die Familie, wenn nationale Sicherheit herrscht, lebt und arbeitet das Volk glücklich und alle lachen, haha!“ Nun werden Bilder des modernen China gezeigt, in dem der Panda offenbar als Grundschüler lebt. Als der Panda zu Ende vorgetragen hat, steht ihm ein General gegenüber. „Kleiner Freund, das hast Du aber schön gesagt“, lobt er und zahlreiche Ehrenabzeichen glänzen an der Uniform des grauhaarigen alten Mannes, der eine Mütze im Stil Mao Zedongs trägt, mit rotem Stern darauf. „Wo es eine Nation gibt, da gibt es Familie“, sagt der General und betont, „die nationale Sicherheit ist für unsere Arbeit und unser Leben ganz wichtig. Das hast Du in deinen jungen Jahren schon erkannt“.

„Ich grüße den roten Großvater, der sein Land verteidigt hat!“ salutiert der kleine Pandabär.

„Du bist zu freundlich kleiner Freund“, erwidert der alte General. „Jeder sollte doch zur nationalen Sicherheit beitragen.“ Und weiter: „Lass uns mal testen [was Du weißt]: weißt Du, welche Bereiche die nationale Sicherheit betreffen?“

Natürlich weiß unser Musterschüler das und zitiert freudig: „Die wichtigsten Bereiche sind: politische Sicherheit, innere Sicherheit, militärische Sicherheit, Wirtschaftssicherheit, kulturelle Sicherheit, gesellschaftliche Sicherheit, Wissenschafts- und Technologiesicherheit, Internetsicherheit, ökologische Sicherheit, Ressourcensicherheit, Nuklearsicherheit, Sicherheit der Überseeinteressen, außerdem betrifft [die nationale Sicherheit] noch die Polarregionen, das Weltall, die Tiefsee usw.“

Kurz gesagt, die nationale Sicherheit ist immer und überall im Spiel. Sie betrifft jeden, überall und jederzeit. Egal wie tief wir tauchen oder ob wir auf den Mond fliegen.         

Das macht auch das geänderte Gesetz so schwierig. Aber in der chinesischen Gesetzgebung ist diese Art bewusster Unklarheit kein Novum.

Gesetze sind in China so geschrieben, „dass jeder im Land jederzeit dagegen verstößt, sodass jeder verhaftet werden kann, wann immer die Regierung es will“, so beschreibt es der US-Anwalt und Rechtsexperte Dan Harris in einem SPIEGEL-Artikel. Er trifft damit den Nagel auf den Kopf. Nur wen es trifft und wann, das entscheidet letztlich nicht das Gesetz, sondern die politische Windrichtung. Kein Wunder also, dass selbst dem Vorzeigepanda aus dem Video beim Anblick des Windrädchens schwindlig wird.

Info:

Den Text des Gesetzes gibt es hier: 中华人民共和国反间谍法_中国人大网 (npc.gov.cn)

Das Weibo-Video von der Uni Changsha lässt sich hier abrufen: 微博搜索 (weibo.com))

Das Video mit dem poetischen Titel „Den Glanz des Schutzes der öffentlichen Sicherheit erstrahlen lassen“ ist hier abrufbar:【让 维护国家安全微光聚之如芒 】 全民国家安全教育日 有人说,人间烟火气最抚凡人心,可司空见惯的日常是否理所当然?国家安全不仅是国家的事,而与每个人息息相关。从海疆边关到城市阡陌,从晨曦微露到万家灯火,正是你我无数的守护,让维护国家安全的微光聚之如芒。第八个全民国家安全教育日,一起坚定不移贯彻总体国家安全观,守护国家安全!,社会,民生,好看视频 (baidu.com)

Zum Pandavideo geht es hier entlang: 动漫|《国家安全 人人有责》,动漫,动画短片,好看视频 (baidu.com)

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