POLITIK I Indien überholt China – bei der Kopfzahl zumindest

Ende April war es soweit: Indien ist das bevölkerungsreichste Land der Welt. Am 30. April zählte die UN Population Divison 1 425 775 850 Inderinnen und Inder. Doch Divison-Chef John Wilmoth relativierte bei der Vorstellung dieser Zahl in New York gleich: „There is uncertainty in the date.“ Was aber sicher ist: Indien hat in diesen Tagen und Wochen China bei der Bevölkerungszahl überholt.

Indien ist wieder in den Schlagzeilen. Diesmal aber positiv. Das Wirtschaftswachstum wird auf stolze 6,3 Prozent für dieses Jahr prognostiziert. Indien hat Großbritannien überholt und ist die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Die westliche Welt hofiert Indien, weil sie das Land gerne in ihr Lager zerren möchten. Von der Leyen, Scholz, Baerbock und viele mehr reisten nach Indien. Ein selbstbewusster Premierminister Narendra Modi sagt: „India´s time has arrived.” Dazu passt, dass Indien dieses Jahr den Vorsitz der G20 hat und sich entsprechend präsentieren kann. Und nun also auch noch der Titel des bevölkerungsreichsten Landes auf dem Planeten! Aber was sagt dieser aus? In “The New York Times” (19. April) titeln Mujib Mashal und Alex Travelli ihren Artikel so: “India Is Passing China in Population. Can Its Economy Ever Do the Same?”  Das ist genau die richtige und entscheidende Frage: Kann Indien diese gigantische Bevölkerungszahl in wirtschaftliche Erfolge umsetzen? Kann es die demografische Dividende ernten? (Zur Erläuterung dieses Begriffs siehe unter Info). Auf dem Papier ist es zunächst ein großer Vorteil, dass Indien – im Gegensatz zum alternden China – eine junge Bevölkerung hat. Deren eine Hälfte ist unter 30 Jahre alt. Aber dieses Potential kann nur genutzt werden, wenn man für diese jungen Leute etwas tut. Im “New-York-Times”-Artikel wird Poonam Muttreja zitiert, Geschäftsführer der Population Foundation of India“: „The young people have great potential to contribute to the economy. But for them to do that requires the country to make investments in not just education, but health, nutrition and skilling for employability.” Bis 2030 muss Indien rund 90 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen, um nur die Beschäftigungsquote konstant zu halten. Dazu muss Indien, das zwar einige Top-Dienstleister wie zum Tata Consultancy Services (TCS) hat, vor allem im industriellen Sektor gewaltig aufholen. Hilfreich wären dabei ausländische Investitionen. Die Zeiten hierfür sind gut, denn die westliche Welt redet von Diversifizierung, was vor allem raus aus China heißt. Kann Indien davon profitieren? Einige Konzerne wie Apple verlagern von China nach Indien (siehe dazu den folgenden Artikel). Schon 2014 startete Modi mit viel Geld und Pomp eine „Make in India“-Kampagne, um ausländische Firmen ins Land zu locken. Der Erfolg war mäßig. Indien hat im Vergleich zu China eine nach wie vor unterentwickelte Infrastruktur, auch wenn Modi in den vergangenen Jahren die Investitionen in diesem Bereich erhöht hat. Für einige Beobachter Indiens ist deshalb noch lange nicht ausgemacht, dass Indien das neue China sein wird: „On closer inspection, the narrative hyping India´s inexorable rise appears less assured”, schreibt Milan Vaishnav, Direktor des South Asia Programms bei Carnegie, in der aktuellen Ausgabe von „Foreign Affairs“. Er verweist dabei auf ein neues Buch von Ashoka Mody, einem Wirtschaftshistoriker an der Princeton University mit indischen Wurzeln. In „India Is Broken“ zeichnet er ein düsteres Bild vom Land seiner Vorfahren: „India´s democracy and economy are fundamentally broken.“ Was westliche Politiker, die gerne Indiens Demokratie preisen, häufig übersehen ist – so Mody – dass vier von zehn Parlamentariern ein Strafverfahren am Hals haben. Dazu passt, was David Pfeifer kürzlich (22. April) in einem langen Essay („Der unterschätzte Riese“) in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben hat: „Es kommen ja nicht nur gute Nachrichten aus Indien, es häufen sich Berichte über Einschränkungen der Meinungsfreiheit, autokratische Tendenzen der Regierung, Hetze gegen Minderheiten. Neben kaum vorstellbarem Reichtum gibt es es nach wie vor große Armut, und zwar die Art von Armut, die schon beim Hinsehen wehtut.“

Info:

Milan Vaishnav: Is India´s Rise Inevitable?, in: Foreign Affairs, May/June 2023: https://www.foreignaffairs.com/reviews/indias-rise-inevitable

Ashoka Mody: India Is Broken, 5238 Seiten, Stanford University Press, 35 $

https://www.ndtv.com/opinion/india-overtook-china-in-population-now-what-3982590

Hier eine Definition der „Demografischen Dividende“: https://www.berlin-institut.org/themen/international/demografische-dividende

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