Es ist selten geworden, dass uns die Stimmen chinesischer Experten direkt aus China erreichen. Können sie zu heiklen Themen überhaupt frei sprechen? Ein solches heikles Thema ist der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der in China offiziell noch immer als “Ukraine-Krise” bezeichnet wird. Können chinesische Fachleute sich dazu noch äußern, ohne immer nur zu reproduzieren, was die chinesischen Staatsmedien schreiben? Dafür schien bisher wenig zu sprechen. Dass sie es aber doch können und wollen, zeigt ein kurzer, aber bemerkenswerter Artikel der französischen Tageszeitung „Le Monde“ von ihrem Peking-Korrespondenten Frédéric Lemaître, erschienen am 2. März 2023.
Lemaître, übrigens ehemals Deutschland-Korrespondent, hat sich auf die Suche gemacht nach chinesischen Spezialisten, die bereit waren, mit ihm über die komplizierten Beziehungen zwischen Russland und China zu sprechen. Er wurde fündig. Drei Experten hat er für seinen Artikel befragt und interessante Antworten erhalten. „Chinesische Experten relativieren die grenzenlose Freundschaft zwischen Russland und China“[1] lautet der Titel des Artikels, der in sehr geraffter Form das Ergebnis der Gespräche wiedergibt.
Die Fachleute, so fasst Lemaître zusammen, sprechen Narrativ-konform noch immer von einer „Krise“ und eben nicht von Krieg. Das war’s aber auch schon mit der Konformität. Ansonsten weichen die Interview-Partner mitunter deutlich von der innerhalb Chinas erwartbaren Haltung zu Russland ab. So wird beispielsweise Liu Jun, Zentraleuropa-Experte der Shanghaier Pädagogischen Universität Ostchina (auf Englisch East China Normal University) zitiert: „China hat überhaupt kein Interesse an einer Allianz mit Russland.“ Beide Länder seien einander zu nichts verpflichtet, sagt er weiter und kritisiert, man habe das im Westen noch nicht verstanden, aber sowohl China als auch Russland hätten intern schließlich genug mit eigenen Problemen zu tun.
Auch der stellvertretende Direktor des Instituts für Internationale Beziehungen in Shanghai, Zhao Long, zählt sich nach eigenen Aussagen nicht zu den Unterstützern einer Allianz mit Russland. Dass China Russland nahe stünde, zitiert „Le Monde“ Zhao Long, läge unter anderem daran, dass China kaum eine Wahl habe. Viele Verbündete gäbe es nämlich nicht, die Chinas Vision der Weltordnung teilten. Auch dürfe die politische und militärische Stärke Russlands nicht unterschätzt werden, glaubt Zhao. Gegen eine tiefe Verbundenheit der beiden Länder spricht auch ihre grundlegend unterschiedliche geopolitische Einstellung. „Russland will das aktuelle internationale System zerstören, China will es transformieren, um dort einen wichtigeren Platz einzunehmen“ sagt Zhao gegenüber Le Monde. In seinen Augen, schreibt Lemaître, sind China und Russland derselben Ansicht, was den Ursprung der „ukrainischen Krise“ anbelangt, aber nicht darüber, wie sie zu regeln sei. Denn, so Zhang: „China ist gegen die Anwendung von Gewalt“.
Pan Dawei, von der berühmten Akademie der Sozialwissenschaften in Shanghai, sieht das Problem vor allem in den USA, die er als Nation für „zu jung, zu verrückt“ hält. So weit so Peking-konform. Doch Pan bereitet andererseits der Nationalismus Sorge, den man weltweit beobachten kann. Ihn hält er laut „Le Monde“ für eine Folge des Ukrainekrieges. „Putin hat seine eigene Logik, aber er hat die Reaktion des Westens unterschätzt. Er wollte Russland stärken, aber jetzt ist es schwer zu sagen, ob Russland eine sich entwickelnde oder untergehende Macht ist“, fasst Liu Jun die Lage zusammen und fürchtet, der Krieg könne noch lange dauern.
„Es gab zahlreiche Alternativen zum Konflikt. Die russische Führung hat sich offensichtlich getäuscht, als sie glaubte, die Angelegenheit in ein paar Wochen regeln zu können. Nun wird es schwierig für Putin, den Konflikt beizulegen. Der Donbass und der Süden der Ukraine werden dauerhaft ein Spannungsfeld bleiben. Sowohl der Anschluss Schwedens und Finnlands an die NATO als auch die Annäherung der USA und der EU sind Putins Versagen“, analysiert Zhao Long.
Chinesische Waffenlieferungen an Russland schließen alle drei Experten aus.
China wolle eine politische Lösung finden, das würde es verbieten, gleichzeitig Waffen an eine der Parteien zu liefern, sagt Liu Jun gegenüber Le Monde. Zhao Long glaubt, nicht aus Angst vor dem Westen werde China keine Waffen liefern, sondern weil man eine Waffenruhe anstrebe und Fürsprecher des Friedens sei. Russland wisse genau, dass jeder Staat seine bilateralen Beziehungen gemäß den eigenen Interessen verfolge, glaubt Pan Dawei. Darum sei man in Russland auch nicht enttäuscht, wenn chinesische Waffenlieferungen ausblieben. Im Gegenzug stärke man schließlich die Handelbeziehungen zu Russland.
Info:
Den ganzen Artikel gibt es für Abonnenten auf der Webseite von Le Monde übrigens auch in englischer Sprache: https://www.lemonde.fr/en/international/article/2023/03/03/chinese-experts-downplay-no-limits-friendship-between-beijing-and-moscow_6018017_4.html
[1] Bei allen Zitaten aus dem französischen Artikel handelt es sich um freie Übersetzungen nach bestem Wissen und Gewissen.