Das chinesische soziale Netzwerk Douban veröffentlichte kürzlich eine Liste der besten Bücher des Jahres 2022. Die 2005 gegründete Social Media Plattform gibt seit 2015 jährlich eine solche Liste heraus. Dieses Jahr schafften es auch zwei Autorinnen unter die Top Ten. Ein Novum und das, obwohl über 60 Prozent der Douban-Nutzer Frauen sind. CHINAHIRN nimmt dies zum Anlass, Ihnen mit Zhang Tianyi eine der beiden Autorinnen und ihr Buch vorzustellen: In „Wie Schnee, wie Berge“ (ru xue ru shan如雪如山) der Autorin Zhang Tianyi 张天翼 geht es um fünf Protagonistinnen, die vor allem eines gemeinsam haben: den Vornamen Lili. Zwar verwendet die Autorin verschiedene Schreibweisen für Lili, alle sind jedoch geläufige Vornamen in China. Die Autorin selbst erklärt dazu, jeder kenne doch eine solche Lili. Man begegne ihr quasi täglich. Die Heldinnen des Buches stehen insofern schon aufgrund ihrer Namen, aber auch durch vieles, was sie erleben, für alle Frauen in China. Und der Douban-Erfolg zeigt: Es ist der Autorin offenbar gelungen, dass viele Chinesinnen sich in den Figuren der Autorin wiederfinden. Tatsächlich geht es in „Wie Schnee, wie Berge“ um das weibliche Erleben des chinesischen Alltags. Und dabei wird scheinbar nichts ausgelassen, was Frauen im Alltag anders erleben als Männer. In der Kurzgeschichtensammlung geht es um die körperliche Leidensfähigkeit von Frauen. Menstruation, Geburtsschmerz, sexuelle Gewalt und alltägliche Diskriminierung: All dies erleben die ganz normalen Heldinnen in Zhang Tianyis Werk. Die Autorin spricht damit Themen an, die jede Frau in China kennt, aber kaum je thematisiert. Jede der fiktiven Kurzgeschichten in „Wie Schnee, wie Berge“ dreht sich um Geschlechterrollen und das Zusammentreffen von Männern und Frauen in all seinen Facetten.
Wie beiläufig werden in einer der Erzählungen etwa die weiblichen Schaufensterpuppen im Kaufhaus beschrieben, die auf Zehenspitzen stehen. Jeder kennt dieses Bild. Niemand stellt es in Frage. Doch mit der Beschreibung des Bildes wird unweigerlich klar: Die weiblichen Puppen sind dafür gemacht, hohe Schuhe zu tragen. Hohe Schuhe als Sinnbild von Weiblichkeit werden in der Beziehung zwischen Mann und Frau an anderer Stelle dann wieder ganz anders thematisiert. Der Partner einer von Zhangs Figuren erwartet von seiner Geliebten, dass sie eben keine hohen Schuhe mehr tragen solle. Von der Frau an seiner Seite erwartet er außerdem den passenden Musikgeschmack, dass sie stilsicher lieber das japanische als das chinesische Restaurant auswählt und eben, dass sie flache Schuhe trägt. Immer wieder geht es bei Zhang Tianyi um die Erwartungen an Frauen. Um ihre Rollen. Zhang Tianyis Protagonistinnen sind dabei aber keine Schaufensterpüppchen, die sich nur nach den Wünschen der Männer richten. Sie sind mitunter schlagfertig. In einem Artikel der „China Woman’s Daily“ heißt es, Schnee sei zwar still, doch darunter verberge sich Hoffnung. Berge seien zwar ruhig, doch seien sie robust und böten Schutz. Der abstrakte Titel „Wie Schnee, wie Berge“ ist insofern wohl als Beschreibung der Frauen zu verstehen, die wie der Schnee still sind und doch Hoffnungen hegen, die robust wie Berge den Herausforderungen des Lebens trotzen und Stärke beweisen. Der Roman ist bei Douban gleich zweifach prämiert: Platz vier auf der Liste „Buch des Jahres“ und Platz eins in der Kategorie „Chinesische Literatur“.
Die Autorin übrigens teilt Vor- und Familiennamen mit einem bereits verstorbenen chinesischen Kinderbuchautoren in exakt gleicher Schreibweise. Bei einer Internetrecherche auf Chinesisch muss man darum schon den Buchtitel mit eingeben, oder den Zusatz „weibliche Autorin“, erst dann tritt die Autorin aus dem Schatten ihres männlichen Namensvetters. Dieser Zufall ist durchaus sinnbildlich. Selbst auf Douban hat es bis 2023 gedauert, damit zwei Frauen, darunter neben Zhang Tianyi noch die 82jährige Yang Benfen („I am Rich in Fragrance“), es auf die populäre Bücherliste schafften. Und auch in ihrem eigenen Leben musste die Autorin sich gegen einen autoritären Vater durchsetzen. In einem Interview erzählt Zhang Tianyi, wie ihr Vater, von dem die ganze Nachbarschaft wusste, dass er die Tochter schlägt, sie als Kind mit ehrgeizigen Zielen plagte. Denn sobald sie in die Schule kam, war klar, dass sie Talent zum Schreiben hatte. Dies war Fluch und Segen zugleich. Das Schreiben, so sagt die Autorin selbst, sei für sie ein Ventil. Doch ihr Talent hat sie als Kind auch als Bürde empfunden. Der Vater verbot ihr fortan mit Freunden zu spielen. Denn für ein talentiertes Kind war Spielen in seinen Augen Zeitverschwendung. Er zwang Tianyi, täglich Tagebuch zu schreiben und kontrollierte die Einträge. Den Überehrgeiz ihres Vaters erklärt Zhang Tianyi sich damit, dass sie einer einfachen Arbeiterfamilie entstammt. Viele Eltern dieser Generation hätten wenig Chancen auf gute Bildung gehabt und projektierten dann die Hoffnungen auf ihre Kinder, die in ihrem eigenen Leben unerfüllt geblieben sind. Dieser Erklärung zum Trotz konnte Zhang Tianyi, so sagt sie selbst, dem eigenen Vater nie verzeihen, dass er ihr die Kindheit genommen hatte. Der Autorität des Vaters entflohen versucht sie heute in ihrem literarischen Schaffen optimistisch zu bleiben. Die Beziehung zwischen Mann und Frau, die Liebe, ist in ihren Augen wie Magie. Da gäbe es schwarze Magie (so wie die autoritäre Liebe ihres Vaters) und weiße Magie (die sie bei ihrem Mann erlebt). Es sind die zwei Seiten einer Medaille. Den Glauben an die Magie der Liebe scheint Zhang jedenfalls nicht verloren zu haben. Das kann man aus einem Interview herauslesen, in dem sie ihren Mann als jemanden beschreibt, der offenbar ganz anders ist als ihr Vater. Der sie unterstützt und ihr erlaubt, sie selbst zu sein. Ende gut alles gut, könnte man meinen. Als Schriftstellerin aber ist Zhang Tianyi hoffentlich noch längst nicht am Ende ihrer Karriere. Die junge Autorin kommt aus Tianjin und ist inzwischen wohl kein Geheimtipp mehr. Mehrere ihrer Romane und Kurzgeschichten wurden in den letzten Jahren ausgezeichnet, sie erhielt zahlreiche Preise, zum Beispiel als Nachwuchsautorin oder Schriftstellerin des Jahres (2019). Auch „Wie Schnee, wie Berge“ wurde schon mehrfach nominiert und ausgezeichnet.
Info:
Hier ist die Top Ten Liste der bei Douban best bewerteten Bücher im vergangenen Jahr: