GESELLSCHAFT I Die Gaokao-Fabrik oder wie Schüler fürs Abitur gedrillt werden

Um 5.30 Uhr morgens hallt der Weckruf durch die Wohnheime. Abends um 22.15 Uhr gehen dort die Lichter aus. Zwischen diesen beiden Zeiten besteht das Leben für die rund 10 000 Schüler aus Lernen, Essen und Marschieren. Nur einmal im Monat haben die Schüler frei. Von Sonntagmittag bis Montagmorgen. Dann fliehen viele vom Campus, decken sich in Supermärkten mit Snacks für die nächsten vier Wochen ein, übernachten in einem Hotel und schauen dort irgendwelche Filme.

Die Rede hier ist von der Hengshui Nor. 2 High School in der Provinz Henan. Sie ist berühmte für ihren Drill, aber auch ihren „Output“: Sie „produziert“ überdurchschnittlich viele gute Absolventen des Gaokaos, wie die dem Abitur vergleichbare Abschlussprüfung genannt wird. Knapp 90 Prozent der Abgänger dieser Schule schaffen es an eine der Prestige-Unis des Landes. Ob Tsinghua in Beijing, Fudan in Shanghai oder die Nanjing Universität – die Plätze an diesen Hochschulen sind extrem begehrt, weil sie hohes Ansehen und vor allem später hohes Einkommen versprechen. Viele Eltern tun deshalb alles, dass ihr Kind ein gutes Gaokao-Ergebnis erreicht. Deshalb gibt es im Lande inzwischen viele sogenannte Gaokao-Fabriken, die Massen von gelehrigen Schülern produzieren. Die Hengshui No. 2 High School ist sicher eine der berühmtesten, die immer mal wieder gepriesen, aber auch angeklagt wird.

Gerade hat sich ein Schüler auf der Webseite Zhihu über Misshandlungen seelischer wie körperlicher Art beklagt. Der Beitrag war eher ein Aufruf:  “Rettet uns!” war die Überschrift. Ein Auszug aus dem Artikel: „This school engages in corporal punishment at will, seriously beating and verbally abusing students and forcing them to stand against the will with no time limit.” Er berichtet von Selbstmorden, und er, der Verfasser selbst, sei auch gerade wegen Depressionen in Behandlung. Der Zhihu-Beitrag wurde schnell von den Zensurbehörden gelöscht, doch die aufmüpfige Zeitung „Southern Weekly“ (Nanfang Zhoumo) griff das Thema auf – und wieder einmal wird über das Thema der Gaokao-Fabriken diskutiert. Die einen – und das ist wohl die Mehrheit der Schüler und vor allem der Eltern – sehen solche Schulen als einmalige Chance, sich aus dem Elend in der Provinz zu befreien. Siehe hierzu den Youtube-Beitrag des Hengshui-Schülers Zhang Yifeng, der zunächst frei bekennt: „I am just a pig from the countryside“, um dann zu erklären, warum er mit Hilfe der Schule diesem Zustand entfliehen will. Auf der anderen Seite mehren sich die Stimmen, die den para-militärischen Drill an diesen Schulen anprangern. Solange die Gaokao-Punktzahl jedoch über die Zulassung zu den Hochschulen entscheidet, wird dieser Streit andauern.

Info:

In diesem Video erklärt Schüler Zhang Yifeng, warum er an der Hengshui No. 2 ist: https://www.youtube.com/watch?v=9SWJtTxEAeA

Hier berichtet ein Schüler über den durchgetakteten Alltag an der Henghsui No. 2: https://www.theworldofchinese.com/2022/06/inside-chinas-gaokao-factory/

Hier ein Beitrag von Radio Free Asia (RFA) über die aktuelle Diskussion um die Gaokao-Fabriken:

https://www.rfa.org/english/news/china/violence-02012023152551.html?utm_source=substack&utm_medium=email

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