POLITIK I Jörg Wuttkes europäische Abschiedstournee

Drei Jahre lang war Jörg Wuttke nicht mehr außerhalb Chinas. Drei Jahre lang war Mr. Europa, wie der Präsident der Europäischen Handelskammer in China (EUCCC) auch genannt wird, also auch nicht in Europa. Vor der Pandemie war er fast jeden Monat in Brüssel, Berlin oder Ludwigshafen, denn er ist ja im Hauptberuf Chefrepräsentant der BASF in China. Drei Jahre lang war er in Beijing fast eingesperrt, selbst Reisen innerhalb Chinas waren kaum möglich, stets reiste die Furcht mit, in irgendeiner chinesischen Stadt mit Lockdown zu stranden. In Beijing die ständigen Tests, von denen selbst der Hund der Familie – ein Yorkshire Terrier – nicht verschont blieb. Dann Mitte Dezember der radikale Kurswechsel der chinesischen Covid-Politik. Er nennt es eine „Kapitulation vor dem Virus“. Aber sie ermöglichte Wuttke die Ausreise. An Silvester flog Wuttke nach Deutschland, verbrachte die Feiertage zuhause im Kraichgau, ehe es in der zweiten Januar-Woche nach Brüssel ging. Dort absolvierte er mit Kollegen von der EUCCC ein Mammutprogramm. Von Montag bis Freitag waren die Brüsseler Tage von morgens bis abends durchgetaktet. In der Kommission Gespräche mit den wichtigsten Generaldirektoren, den Kabinettchefs diverser Kommissare und mit Vizepräsident Valdis Dombrovskis. Dazu jeweils separate Treffen mit den EU-Parlamentariern Reinhard Bütikofer, Bernd Lange und Manfred Weber. Und Besuche bei Verbänden und Thinktanks. Die darauffolgende Woche dann fast dasselbe in Berlin. Das dortige BASF-Büro organisierte ein straffes Programm: Hintergrundgespräche im Kanzleramt, im Auswärtigen Amt und BMWK, dazwischen Interviews und semi-öffentliche Auftritte. Ich hörte ihm bei einem Lunch des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller sowie bei der Keynote einer Merics-Veranstaltung anlässlich der Vorstellung des neuen Forecast 2023 zu. Wie gewohnt eloquent, offen und mit Witz gespickt präsentierte er seine Analyse. 2021 sei ein außergewöhnlich erfolgreiches Jahr gewesen, dem vor allem in der zweiten Jahreshälfte ein miserables 2022 folgte. Und wie wird 2023? „Mit Sicherheit besser, weil es nicht mehr schlechter werden kann.“ Er redet über die endlosen Covid-Tests, die den Staat rund 230 Milliarden Dollar gekostet haben und fragt rhetorisch: „For what?“ In der Vergangenheit habe China die Krisen immer mit den besten Leuten und besten Ideen überstanden. Im Frühjahr tritt das neuen Führungsteam an. Wird diese neue Mannschaft unter dem alten Teamchef Xi Jinping China wieder aus der Krise führen? Er fragt nur, lässt aber die Antwort offen. Er kritisiert, dass China bei Infrastruktur überinvestiert ist, bei öffentlichen Dienstleistungen hingegen unterinvestiert sei. Und was hält er von dem deutschen Decoupling-Gerede? Da zitiert er den ehemaligen Siemens-Chef Heinrich von Pierer: „Das Risiko, nicht in China zu sein, ist größer als das Risiko, in China zu sein.“ Ende Januar flog Jörg Wuttke zurück nach Beijing.  Am 25. Mai wird er sein Amt als Präsident der Europäischen Handelskammer, die sein Kind war und ist, abgeben. Damit geht eine Ära zu Ende, aber – keine Sorge – Wuttke wird der Politik, der Wirtschaft und den Medien als kompetenter und stets offener Gesprächspartner erhalten bleiben. Bis Sommer 2024 macht er noch seinen Job bei BASF in Beijing. Dann wird er 65. Und dann? Die Zeichen stehen auf Abschied aus China.

No Comments Yet

Comments are closed