HU IS HU I Chinas Intellektuellenszene

Gibt es in China eine Intellektuellenszene, in der auch kontrovers diskutiert wird? Selbstverständlich, sagt David Ownby in dem Artikel “China und seine unbekannten Denker” in der deutschen Ausgabe von „Le Monde diplomatique“ vom 12. Januar 2023. Darin sieht er „eine blühende, bis zu einem gewissen Punkt sogar pluralistische intellektuelle Szene“. Er berichtet von lebendigen Debatten chinesischer Wissenschaftler:innen, die aber weitgehend unter dem Radar der internationalen Öffentlichkeit stattfänden. Daran hätte auch Xi Jinping nichts ändern können: „Trotz all seiner Anstrengungen gelang es Xi auch nie, die ideologischen Kontrollschraubne komplett anzuziehen; ihm blieb gar nichts anderes übrig, als die Intellektuellen zu dulden.“  Owny, der auch einen vorzüglichen Newsletter mit übersetzten Texten chinesischer Intellektueller herausgibt, beobachtet die Szene schon seit langem. Seit 2000 habe sich die Diskussion um folgende drei grundlegende Fragen gedreht:

  • Ist China einzigartig, und wenn ja, in welcher Hinsicht?
  • Was ist seine Rolle in der Welt, oder was sollte sie sein?
  • Und wie ist seine Geschichte zu erzählen?

Die Theorie, dass China allen anderen Ländern überlegen sei, vertritt vor allem der Politikwissenschaftler Zhang Weiwei. Für ihn ist China sowohl Nationalstaat als auch Zivilisation, weil alle anderen Länder nur Nationalstaaten seien. Er werde aber unter den chinesischen Sozialwissenschaftler nicht ernst genommen, schreibt Ownby, weil er Xi Jinping zu stark nach dem Mund rede. Andere Vertreter der Einzigartigkeitsthese sind auch die Konfuzianismus-Anhänger Jiang Qing und Chen Ming, aber ihre Schlussfolgerungen seien umstritten. So erklärt beispielsweise Chen Ming: „Ein großer Teil des 20. Jahrhunderts war ein tragischer Fehler, weil die Regierung ständig nach westlichen Lösungen für chinesische Probleme gesucht hat.“ Auch die Neue Linke, vertreten durch Wang Hui und Wang Shaoguang, sei von Chinas Einzigartigkeit überzeugt. Chinas System der reaktiven Demokratie sei der repräsentativen Demokratie des Westens überlegen, weil es unter anderem die Rolle des Staates weiterentwickelt habe.

Bei der Beantwortung der zweiten Frage tat sich vor allem der Philosoph Zhao Tingyang hervor, der dank der deutschen Übersetzung seines Buches „Alles unter dem Himmel“ (Suhrkamp) auch hierzulande bekannt ist. Er griff das tianxia-Konzept aus dem 11. Jahrhundert auf, nach dem das Zentrum der Zivilisation in China lag. Jiang Shigong (ein Rechtstheoretiker an der Beida) spricht von einem chinesischen Imperium, dessen Regionen durch die Seidenstraßen-Initiative „vereint“ seien. Kritiker dieser Konzepte meinen, dass es der Welt besser gegangen sei, als China in einer von den USA dominierten Welt nur eine Nebenrolle spielte. Zu ihnen zählt zum Beispiel der Soziologe Sun Liping. Nach seiner Ansicht reichen hohe Wachstumsraten alleine nicht aus, um die USA zu überholen. Sun: „Wir müssen begreifen, dass wir vor äußerst schwierigen existenziellen Problemen stehen, das größte ist unsere extrem niedrige Geburtenrate.“

Die dritte Frage kreist nach Ansicht von Ownby vor allem um „die seltsam anmutende Frage: Soll man die Geschichte der Volksrepublik China als „zwei Perioden von 30 Jahren“ oder „eine Periode von 60 Jahren“ erklären?“ Anders gefragt: Gibt es eine Mao-Ära und ein (Post-)Deng-Ära? Ownby schreibt: Für die Kommunisten war es ein Fehler, den Maoismus aufzugeben. Die Liberalen hingegen meinen, Deng Xiaoping habe sich nicht entschieden genug der Marktwirtschaft zugewandt. Zu diesen Liberalen zählt der Wirtschaftswissenschaftler Yao Yang, der einen „konfuzianischen Liberalismus“ entwickelte. Dieser toleriert ein für unvermeidlich gehaltenes Maß an sozialer Ungleichheit und eine gewisse meritokratische Elite. In einem solchen System sei eine konsensfähige Regierung in der Lage, „die Angelegenheiten des Volkes ordentlich zu verwalten“. Westliche Staaten seien, so Yao, zu schwach und von populistischen Strömungen unterwandert, während der Staat in China zu stark sei und die Bedürfnisse des Volkes zu wenig beachte. Ownbys Übersicht ist eine gute Einsicht in die Intellektuellen–Diskussion in China. Sehr hilfreich sind dabei die Hinweise auf Quellen, meist in englischer Sprache. 

Info:

Hier der Artikel von David Ownby in „Le Monde diplomatique“:

https://monde-diplomatique.de/artikel/!5896979#fn17

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