Derzeit wird hinter den Kulissen im politischen Berlin um zwei Strategiepapiere gerungen. Zum einen will die Bundesregierung zum ersten Mal eine Nationale Sicherheitsstrategie vorlegen, und zum anderen eine China-Strategie. Beides ist im Koalitionsvertrag vom November 2021 vorgesehen, und für beides ist das Auswärtige Amt federführend zuständig. Zuerst sollte die Sicherheitsstrategie präsentiert werden (kurz vor Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz, die am 17. Februar beginnt), später im Frühjahr dann die China-Strategie. Doch die Strategieentwürfe befinden sich derzeit in irgendwelchen Warteschleifen zwischen den verschiedenen Ministerien und dem Kanzleramt. Der Fahrplan des AA lasse sich nicht einhalten, heißt es in dem SPIEGEL-Artikel „Spiel auf Zeit“. Danach wollte das AA das Papier zur Nationalen Sicherheitsstrategie über die Weihnachtspause zur Ressortabstimmung geben. Zu früh, hätten das Kanzleramt, aber auch das Finanzministerium befunden. Der SPIEGEL vermutet hinter dem Streit um Termine die Machtfrage: „Wer hat das Sagen in der Außenpolitik: Kanzleramt oder Auswärtiges Amt? Wer dominiert das Außenbild Deutschlands in den nächsten Jahren – der interessengeleitet Scholz oder die werteorientierte Baerbock?“ Als ein Konfliktfeld hat der SPIEGEL unter anderem die Passagen zu China ausgemacht. Das Kanzleramt störe sich darin an Umfang, Schärfe und Detailtiefe. So sollen konkrete Handlungsanweisungen an Ministerien, Länder, Kommunen, Unternehmen und Universitäten aus der Strategie abgeleitet werden können. Solche stehen auch im bereits geleakten China-Strategie-Entwurf. Auch dieser steht wegen seiner Konkretheit und seines daraus resultierenden Umfangs in der Kritik des Kanzleramts.
Mitten in dieses politische Hickhack platzt ein Wissenschaftler-Quartett des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) am 5. Januar mit einem Beitrag in der FAZ. Dort stellen sie die Frage: „Braucht Deutschland (also) überhaupt eine auf ein Land fokussierte außenpolitisch motivierte Strategie?“ Ihre Antwort verbrämen sie im Konjunktiv: „Aus vielerlei Gründen könnte die Antwort darauf Nein sein.“ Und dann zählen sie vier Gründe auf. Erstens würde Deutschland damit genau das machen, was man China und anderen autokratischen Ländern vorwerfe, nämlich eingreifen in privatwirtschaftliche Entscheidungen und Abläufe. Zweitens glaube die Regierung, die Unternehmen an die Hand nehmen zu müssen, weil diese offenbar die Risiken enger wirtschaftlicher Verbindungen unterschätzten oder ganz ausblendeten. Drittens gilt es zu fragen, warum nur eine Strategie gegenüber China und nicht auch gegenüber anderen Ländern? Das ist für mich eines der schlagkräftigsten Gegenargumente: Warum eine China-Strategie? Wir haben ja auch keine USA- oder Indien-Strategie. Und warum brauchen wir – viertens – eine deutsche China-Strategie, wenn denn die EU auch an einer arbeitet?
Nach diesen Argumenten gegen eine nationalen China-Strategie widmen sich Holger Görg, Katrin Kamin, Rolf J. Langhammer und Wan-Hsin Liu der Pro-Seite. Wenn es schon eine deutsche China-Strategie sein müsste, dann sollte sie aber fünf Voraussetzungen erfüllen. Sie soll erstens klare Ziele nennen und in Diagnose wie Schlussfolgerungen längerfristig ausgerichtet sein. Sie soll zweitens in eine europäische China-Strategie eingebettet sein. Sie soll drittens Chinas wahrscheinliche Veränderungen und Herausforderungen analysieren. Sie soll sich viertens nicht nur auf das Land China beschränken, sondern auch einbeziehen, was chinesisches Kapital und chinesische Arbeitskräfte außerhalb ihres Landes erwirtschaften. Und fünftens soll die Strategie keineswegs imperativ, sondern indikativ sein, also vor allem den wirtschaftlichen Akteuren keine Vorschriften machen. In diesem Punkt ist sich die Kieler Kritik mit der aus dem Kanzleramt einig. Ich bin gespannt, wie sich die Diskussion um die China-Strategie in den nächsten Wochen weiterentwickelt und vor allem darauf, wer sich letztlich durchsetzen wird: Kanzleramt oder Auswärtiges Amt. Ich tippe auf die Scholz-Truppe.