Laut dem staatlichen Gesundheitsbericht China’s Mental Health Survey 2022 leiden 95 Millionen Chinesen an Depressionen (6,8 Prozent der Bevölkerung). Das sind so viele wie die gesamte Einwohnerzahl bedeutender Länder: etwas mehr als die Bevölkerung des Iran, etwas weniger als die Bevölkerung Vietnams. Um die 280 000 Menschen jährlich begehen in China Selbstmord. China hat damit pro Jahr mehr Selbstmörder, als Wiesbaden Einwohner hat. Die Pandemie hat sicher ihren Anteil an den Zahlen. Studien zeigen, dass zu Beginn der Pandemie die Selbstmordrate weltweit stagnierte oder sogar gesunken war, dass aber in der Folge nahezu weltweit ein Anstieg festzustellen war. Mehr Menschen benötigten psychologische Hilfe, mehr Menschen mussten nach Selbstmordversuchen in Kliniken behandelt werden. Mehr Menschen leiden seither unter Schlafstörungen und Angst. Das gilt auch für China.
Tatsächlich steht die wachsende Bedeutung der Psychologie als Fachgebiet und als Feld der Gesundheitsversorgung in China heute außer Frage. Doch es besteht enormer Nachholbedarf. Insgesamt fand die mentale Gesundheit in China in der Vergangenheit wenig Beachtung. Auch wenn die Volksrepublik seit Jahren große Summen in das Gesundheitssystem investiert und dabei die psychische Gesundheit nicht außen vorlässt. Aber die Volksrepublik wird den neuen psychischen Nöten einer urbanen Industriegesellschaft bisher kaum gerecht.
Von einer Millionen Chinesen haben gerade mal 20 Patienten Zugang zu psychiatrischer Behandlung. 80 Prozent der Krankenhäuser in China haben keine psychiatrische Abteilung und sind nicht darauf vorbereitet, psychiatrische Notfälle zu behandeln. In den meisten Krankenhäusern werden selbstmordgefährdete Patienten oft erst aufgenommen, wenn sie einen Suizidversuch überlebt haben. Damit kommt für viele jede Hilfe zu spät. Behandelt werden dann vor allem die körperlichen Folgen der versuchten Selbsttötung wie Vergiftungserscheinungen oder Knochenbrüche. Für die dringend benötigte psychiatrische Behandlung fehlt es in chinesischen Krankenhäusern in aller Regel an Kapazitäten und Fachpersonal.
Das entsprach lange Zeit der allgemeinen gesellschaftlichen Ignoranz gegenüber psychischen Problemen. Inzwischen findet insbesondere in den Städten ein schnelles Umdenken statt. Hier steigt die Nachfrage an psychologischer Beratung und Behandlung, und zwar nicht erst seit der Pandemie. Immer mehr Chinesen stellen fest, dass Psychotherapie, Paartherapie oder andere präventive Therapieangebote ihnen helfen können, ihre Gesundheit zu erhalten, zu verbessern oder akute Krisen zu lösen. Bisher war es in China eher ungewöhnlich zum Therapeuten zu gehen. Heute gibt es überall neuen Gesprächsbedarf.
Umfragen unter Studenten zeigen, dass sie Fächer wie „Death Studies“ an ihren Universitäten vermissen. Sie fühlen sich schlecht vorbereitet auf den Umgang mit dem Tod. Dieser nämlich ist in China immer noch ein Tabu. Schon die Zahl „vier“, gesprochen „si“ wie das chinesische Wort für „sterben“ oder „Tod“, wird aus Aberglauben in Telefonnummern und Autokennzeichen gemieden. Manche Hotels Überspringen bei der Nummerierung der Etagen die Vier. So unsagbar wirkt das Wort „Tod“. Dabei ist China das bevölkerungsreichste Land der Welt mit einer überalterten Bevölkerung. Die lange geltend gemachte Einkind-Politik hat den Überalterungstrend, der in vielen modernen Gesellschaften beobachtet wird, noch verstärkt. Aber kann eine alternde Gesellschaft es sich leisten, nicht über den Tod zu sprechen, noch dazu in Zeiten einer Pandemie? Es ist interessant, dass es in China die junge Generation ist, die mehr Auseinandersetzung mit dem Thema fordert. Über Dinge reden, die uns Angst machen, ist ein wichtiger Aspekt in der Psychologie. Wie sich Verdrängung auf unsere mentale Gesundheit auswirkt, ist hinlänglich bekannt. Über den Tod zu sprechen – zumal in Zeiten der Pandemie – wäre also ein dringend nötiger Anfang.
Die Forschung versucht ihn zu machen. Von 2019 bis 2021 hat sich die Zahl wissenschaftlicher Publikationen zu psychiatrischen Themen innerhalb Chinas von 67 auf 133 Publikationen nahezu verdoppelt. 43,28 Prozent der 2019 publizierten Arbeiten befassten sich dabei spezifisch mit dem Thema „mentale Gesundheit älterer Menschen“. Während die psychiatrische Forschung in China insgesamt angestiegen ist, ist auch die Fokussierung auf ältere Menschen innerhalb dieser Forschung weiter angestiegen. 59 der 133 Arbeiten befassten sich 2021 mit den Älteren.
2022 hingegen sank die Anzahl vergleichbarer Veröffentlichungen deutlich. Nur noch 74 wissenschaftliche Veröffentlichungen befassten sich mit psychiatrischen Themen. Vermutlich ist dies eine Folge verschobener Prioritäten durch die Pandemie, in der zunächst andere Themen dringender erschienen. Und doch könnte man fragen: Was ist angesichts der nachgewiesenen Zahl von Depressionen und Selbstmorden in China gerade in der Pandemie dringlicher als mehr und bessere psychiatrische Behandlung?
Schon seit langer Zeit sieht das Policy-Institut der Asia Society einen Trend: “The spark in interest in psychological counseling in contemporary China represents a significant break from the Mao era, when psychology was deemed a bourgeois pseudoscience and people who suffered from depression were judged to lack revolutionary zeal.” In der Vergangenheit rühmte China sich einer geringen Rate an psychisch Kranken. Insbesondere im Vergleich zu den USA. Nun sind aber psychische Erkrankungen weder eine westliche Erfindung noch sind Chinesen von Hause aus psychisch belastbarer als Menschen anderer Nationalitäten. Dies zeigen die Ergebnisse des Global Burden of Disease Report der WHO, in dem seit 1999 die Folgen psychischer Erkrankungen dokumentiert werden. Seither erkennt auch China an: Psychische Erkrankungen sind ein ernstzunehmendes Problem – selbst in der Volksrepublik.
Stück für Stück hat sich die Wahrnehmung in China in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Therapeutische Ansätze zum Umgang mit psychischen Problemen wurden sukzessive ernster genommen. Ein Meilenstein war dabei die Anerkennung von psychologischer Beratung als Beruf. Die Qualifikationsvoraussetzungen solcher Berufe fallen heute in den Zuständigkeitsbereich des Ministry of Labour and Social Security. Dabei sind die Anforderungen teilweise gering. Mit wenigen Monaten der Fortbildung kann man bereits psychologische Beratung anbieten. Das erleichtert zwar den Berufseinstieg, bietet aber auch Scharlatanen gute Chancen. Auf Weibo finden sich inzwischen zahlreiche Profile von Psychotherapeuten, die über Themen der psychischen Gesundheit sowie ihre Arbeit informieren. Auf ihren Seiten finden sich häufig Preislisten für Therapiesitzungen sowie detaillierte Lebensläufe. So lässt sich nachvollziehen, wie seriös und wie erfahren der jeweilige Therapeut ist. Viele haben Psychologie studiert, einige nicht nur in China, sondern zusätzlich beispielsweise in den USA. Es gibt also eine große Bandbreite unterschiedlich qualifizierter Therapeuten. Einen qualifizierten und erfahrenen Therapeuten zu finden, bleibt in China vielerorts dennoch eine große Herausforderung, wenn nicht ein Ding der Unmöglichkeit.
Seit den 2000er Jahren ergriff die Regierung Maßnahmen zur Sensibilisierung für psychiatrische Themen. Auch in den Medien sind die Themen seither präsent. Schon 2005 brachte der Staatssender CCTV die Reality-TV-Sendung „xinli fangtan“ (wörtlich etwa „psychologische Gespräche“, hier im Sinne von: „Therapiesitzung“). Das Interesse war groß und die Sendung trug dazu bei, ein breites Publikum für das Zusammenspiel von Psyche und Somatik zu sensibilisieren.
Bereits zuvor hatten die Behörden ein wichtiges Projekt zur Verbesserung der psychologischen Versorgung auf den Weg gebracht. In Folge der SARS-Epidemie 2003 investierte China umfangreich in das Gesundheitssystem. In diesem Kontext entstand das Projekt mit dem umständlichen Namen Central Government Support for the Local Management and Treatment of Severe Mental Illnesses Project. Als einziges befasste es sich nicht mit Infektionskrankheiten. Die Regierung hatte erkannt: Das Gesundheitssystem in China war auf die Behandlung psychischer Leiden nicht eingestellt. Es mangelte insbesondere an lokalen Anlaufstellen.
Egal mit welchem Gesundheitsproblem, ob physischer oder psychischer Natur, der Weg führt in China zunächst ins Krankenhaus. Ein psychisch Erkrankter stellt sich dort ebenso vor wie ein Patient mit Blinddarmentzündung. Es lässt sich leicht vorstellen, dass man auf den Patienten mit Blinddarmentzündung besser vorbereitet ist.
Eine Reform war also dringend nötig. Das war selbst unter dem Einfluss von SARS unverkennbar. Das 2004 ins Leben gerufene politische Großprojekt hatte folgende Zielsetzungen:
a) die Schaffung eines integrierten Identifizierungs- und Behandlungssystems für Personen mit schweren psychischen Erkrankungen (insbesondere für potenziell gewalttätige Patienten);
b) die Behandlungsraten bei schweren psychischen Erkrankungen zu erhöhen,
c) das Bewusstsein der Gemeinschaft für die Merkmale und Behandlungsmöglichkeiten von psychisch Schwererkrankten zu erhöhen,
d) die Heilungschancen zu erhöhen;
e) Schmerz und Leid der Patienten und ihrer Familienangehörigen zu lindern.
Ma Hong vom Institute of Mental Health der Peking Universität bewertet das Projekt in einem Fachartikel im Shanghai Archives of Psychiatry zwiespältig. Einerseits gäbe es eindeutige Erfolge und das Projekt habe für psychisch Schwerkranke zur Verbesserung des Gesundheitssystems beigetragen. Andererseits sei nun der Druck auf das medizinische Personal „enorm“, wenn es darum gehe, mit den politischen Entwicklungen Schritt zu halten und permanent auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand zu sein. Es ist ein bekannter Nebeneffekt übereifriger Regierungsprogramme in China, dass Verantwortungen von oben nach unten delegiert werden. Damit steigt die Erwartungshaltung auf Regierungsebene, und gleichzeitig akkumulieren sich unten Verantwortung und Druck, der auf den Schultern derer lastet, die solche Neuerungen umsetzen sollen.
Dennoch werden infolge des neuen Systems mehr psychisch schwerkranke Menschen in China behandelt, die zuvor von ihren Familien – teils aus Hilflosigkeit – zuhause eingesperrt worden waren. Mehr Menschen werden von den Krankenhäusern erfolgreich erstversorgt und anschließend an lokale Stellen übermittelt, wo sie dann mit deutlich gesteigertem Erfolg langfristig behandelt werden. Sie erhalten damit Zugang zu Hilfsangeboten und kostenlosen Medikamenten.
Immer wieder wurde seither nachgebessert. Regelmäßig finanziell neu bezuschusst. Sechzig neue Gesundheitseinrichtungen in dreißig Provinzen wurden im Rahmen des Projekts gegründet, viel medizinisches Personal ausgebildet und geschult. Den psychisch Schwerstkranken kann inzwischen weit besser geholfen werden als vor der Reform. Für viele andere aber ist die psychologische Versorgung noch immer völlig unzureichend.
Weiterhin mangelt es in China an ausreichend Psychologen und Psychotherapeuten. Das lässt sich mit Geld und politischen Entscheidungen allein nicht regeln. Es braucht Zeit, genügend Fachpersonal auszubilden. Die Regierung setzt deshalb vermehrt auf Vorbeugung und entdeckt nebenbei, wie man sich Erkenntnisse aus der Psychotherapie politisch zunutze machen kann.
Die Kommunistische Partei, so berichtet das Policy-Institut der Asia Society, halte Institutionen wie Polizei, Militär und Schulen an, gezielt Praktiken der Psychotherapie zu übernehmen. Psychotherapeutische Techniken würden damit präventiv, zur Behandlung und zur Kontrolle bestimmter Gruppen genutzt. Schon bei dem 2004 initiierten Projekt fiel auf, dass eines der Ziele neben der Versorgung psychisch Schwerkranker auch deren Erfassung war. Zwar sollte den Betroffenen primär geholfen werden. Es sollte aber auch verhindert werden, dass sie für die Gesellschaft zum Problem werden. Einerseits erhielten Patienten also dringend benötigten Zugang zu Medikamenten und Therapien, andererseits wurde jeder Neuzugang registriert und anschließend überwacht.
Eine Fallstudie über die Schließung einer Fabrik bei Peking zeigt, wie die lokalen Behörden sich gezielt psychotherapeutischer Techniken bedienten, weil man befürchtete, die entlassenen Arbeiter könnten sich organisieren und gemeinschaftlich ihren Forderungen Nachdruck verleihen. Um diesem unerwünschten Szenario vorzubeugen, stellte man kurzerhand einen Teil der frischentlassenen Arbeiter bei der Lokalregierung ein und bildete sie zu besonderen Gesprächspartnern aus. Der neue Job: Den Kontakt zu den entlassenen Kollegen halten und ihnen Beistand leisten. Sie sollten zum ständigen Gesprächspartner werden, den Arbeitslosen Mut machen, die Stärken der Einzelnen betonen. Zwar würden die meisten Entlassenen keine neue Arbeit finden, durch die ständigen „Ansprechpartner“ aber könnten sie sich zumindest den Frust von der Seele reden. Diese Maßnahme sollte verhindern, dass die Arbeiter in die Perspektivlosigkeit abrutschen oder gar dem Alkohol verfallen. Gleichzeitig sollten solche Daueransprechpartner bereit sein, der lokalen Behörde zurückzumelden, wenn sich etwas zusammenbraut. Ein Wechselspiel aus Unterstützung, Fürsorge und Kontrolle. Auch Stellen von Polizei und Militär bedienen sich heute ähnlicher Methoden.
Seit Depressionen auch von staatlicher Seite als ernstes Problem ausgemacht sind, gibt es einen Leitfaden zur Prävention: Früherkennung soll helfen, einer Depression in bestimmten Risikogruppen vorzubeugen. So kann bei ersten Anzeichen bereits reagiert werden. Zu den Risikogruppen gehören neben älteren Menschen, auch schwangere Frauen, Schüler und Studenten.
Immerhin 50% der Depressionen in China betreffen laut Asia Society Schulkinder. Die Regierung rief darum Schulen und Universitäten auf, über die psychische Gesundheit ihrer Schüler und Studenten Buch zu führen. Sogenannte mental health files sollen Auskunft über „unnormale“ Testergebnisse im Rahmen der Depressionsvorsorge geben.
Das chinesische Vorgehen hier pauschal zu verurteilen, werde der Sache nicht gerecht, meint Barclay Bram, Junior Fellow der China Society. Es gehe den Gesundheitsbehörden ernsthaft darum, das Leid der Bevölkerung zu bekämpfen. Man wisse die psychotherapeutischen Mittel zu schätzen und habe ein System etabliert, das sich diese zu Nutze macht. Allerdings gibt Bram zu bedenken, dass die Partei die Kontrolle übertreibe, wenn es darum gehe, die Balance zwischen öffentlicher Sicherheit und der Selbstbestimmung der Bürger zu finden. „The caring impulses of the party have also come with a heavy-handed control”, fasst er zusammen.
Info:
Hier geht’s zum vertiefenden Artikel der Asia Society: https://asiasociety.org/policy-institute/explosive-rise-psychotherapy-china