POLITIK I Nach dem Parteitag: Analysen und Kommentare

Der 20. Parteitag ist vorüber. Die Namen der neuen Führungsriege stehen fest. Es folgte in den Tagen danach die hohe Zeit der Einschätzungen. Journalisten, Thinktanker und Wirtschaftsleute machten sich so ihre Gedanken, welche Folgen dieses einwöchige Spektakel für China und den Rest der Welt haben könnte. Eine Flut von Analysen ergoss sich über die China-Community. Ich bin eingetaucht in dieses Meer von Meinungen und habe ein paar (westliche) Stimmen herausgefischt, die ich im Folgenden in alphabetischer Reihenfolge der Autoren zusammenfasse:

Sergio Grassi (Friedrich-Ebert-Stiftung, Beijing) verweist in einem Interview mit dem ipg-journal (24. Oktober) auf zwei Initiativen, die in der Berichterstattung über den Parteitag etwas zu kurz gekommen sind: die Globale Sicherheitsinitiative und die Globale Entwicklungsinitiative. Auf dem Parteitag sei die Relevanz dieser beiden Initiativen bekräftigt worden, „mit denen Xis China die Weltordnung in den nächsten Jahrzehnten entscheidend mitprägen will“. Und auf noch einen weiteren, bei der Parteitags-Analyse vernachlässigten Aspekt weist Grassi hin: „Nach dem präsentierten Gesellschaftsvertrag (nennen wir ihn „Red New Deal“) soll ein niedrigeres Wirtschaftswachstum durch mehr Lebensqualität kompensiert werden.“ Unter mehr Lebensqualität werden bessere öffentliche Dienstleistungen, eine umfassendere soziale Sicherung und mehr Umweltschutz und Umverteilung verstanden. 

Mikko Huotari (Merics) resümiert in der Zeitschrift „Internationale Politik“ (November/Dezember-Ausgabe), dass Xi Jinping sich auf ganzer Linie durchgesetzt habe. Das betrifft vor allem die personelle Situation an der Spitze. Er sieht „noch mehr loyale Mitstreiter an den zentralen Schaltstellen der Macht in Peking“. Kein Nachfolger sei sichtbar in Stellung gebracht worden. Dadurch sei fast eine ganze Generation von Nachwuchsführungskräften womöglich übersprungen worden. Huotari glaubt, dass wir uns auf ein längeres Herrschen von Xi einstellen müssen: Vieles spricht dafür, dass Xi auch langfristig die dominierende Machtposition im chinesischen System einnehmen wird.“

Für Ian Johnson (Council on Foreign Relations/CFR, New York) habe Xi auf dem Parteitag fast alles bekommen, was er wollte. In seinem CFR-Blog (23. Oktober) stellt er die Frage, ob Xi der mächtigste Führer nach Mao sei, um sie wie folgt zu beantworten: „This has yet to be proven.“ Er vergleicht Xi mit Deng Xiaoping, der China radikal verändert habe. Im Gegensatz dazu habe Xi – bislang jedenfalls – China nicht radikal verändert. Er sieht potentielle Schwachstellen in Xis Politik: Covid, die wirtschaftliche Situation und die hohen Erwartungen, die er hinsichtlich Taiwans weckte. Sein Fazit: „All of this raises questions about the nature and durability of Xi´s power.”

Cheng Li (Brookings)bot dieneue Führungsmannschaft gleich fünf Überraschungen, schreibt er in dem Brookings-Beitrag „Around the Halls: The Outcomes of China´s 20th Party Congress“ (25. Oktober)  Erstens sei keine einzige Frau im 24köpfigen Politbüro vertreten. Das hätte es zuletzt vor 25 Jahren gegeben. Zweitens sei auch kein einziges Mitglied der Kommunistischen Jugendliga mehr in diesem Gremium. Drittens wundert sich Cheng Li, dass der als Regierungschef gehandelte Li Qing keine Erfahrung als Vizepremier hat, was bislang üblich war. Viertens hätte er einige jüngere Politiker der sogenannten sechsten Generation im Politbüro erwartet. Und fünftens hätte sich die militärische Führung substantiell verändert.

Rana Mitter (University of Oxford) sieht in einem Beitrag für „The Guardian“ (23. Oktober) ein Ende des offenen Chinas: „There are signs that the China of the 2020s may be considerable less open than the one we have known for some four decades from the 1980s to 2020.” Das offene, aber illiberale China habe im März 2020 mit der chinesischen Covid-Strategie geendet. Eine Strategie, die eng mit dem Namen Xi verbunden ist, der deshalb in seiner Rede zumindest kurzfristig keine Änderung der Null-Covid-Strategie versprach. Für Mitter hat diese Strategie, die kaum mehr Austausch mit dem Ausland erlaube, negative Folgen: „This may well affect China´s international competitiveness.“ Er sieht eine neue Botschaft im Entstehen, die da lautet: „China´s population is encouraged to work, study and play at home.“ Motto: „Why go overseas, when China is the most advanced society in the world?”

Uwe Parpart und David Woo (Asia Times, Hongkong) haben in der „Asia Times“ vom 28. Oktober eine etwas andere Sicht auf die Personalentscheidungen als die meisten westlichen Kommentatoren. Während diese im Umfeld von Xi nur Ja-Sager orten, sehen Parpart und Woo in dieser loyalen Truppe einen Vorteil: „The fact that Xi in his third term will not have to engage in factional political infighting should allow him to focus his energy on implementing his policy agenda.” In der Vergangenheit hätte es durchaus Spannungen zwischen Xi und Regierungschef Li Keqiang geben. Diese werde es mit dem designierten Regierungschef Li Qiang nicht geben. „This Li will have a freer, more trusted hand than his predecessor”, schreiben Parpart und Woo, die übrigens Li Qiang wesentlich positiver und wirtschaftlich kompetenter einschätzen als andere.

Für Stephen Roach (Yale) brachte der Parteitag keine Überraschungen: „It revealed little we didn´t already know about China“, schreibt er in der “South China Morning Post” vom 26. Oktober. Auch die Zusammensetzung des neuen Ständigen Ausschusses des Politbüros überraschte ihn nicht. In dieser Führungsclique sieht er neben Li Qiang vor allem Wang Huning als eine einflussreiche Person. Er sei Xis ideologisches Alter Ego und der prominente Vertreter der These, dass sich die USA im Abstieg befinden. Für Roach ist die „main message” des Parteitages: „China will stay the course of the past five years. This means national security takes precedence over economic growth.”

Kevin Rudd (Asia Society Policy Institute/ASPI) überschreibt seine erste Analyse von Xis Rede mit „The Return of Ideological Man“ (ASPI, 18. Oktober). Sie habe Xis marxistisch-leninistische Weltsicht dargelegt – „ a world view that also drives his nationalist ambition of making China the preeminent regional as global power by mid-century”.  Was die Wirtschaftspolitik betreffe, sei klar, “the shift in economic policy direction over the past five years (back to the state and retreat from the market) will continue over the next five years”. Rudd beschäftigt sich auch mit der Taiwan-Passage in Xis Report. Die Sprache dort stuft er als „relatively conciliatory“ ein. Man strebe eine friedliche Lösung an, aber schließe die Anwendung von Gewalt nicht aus. Rudd: „This is not a new formulate.“ Aber neu sei hingegen “Xi´s warning that its harsher measures on Taiwan are targeted not at the bulk of the Taiwanese population, but instead at the small minority of Taiwan independence supporters and those foreign states (USA) that back them”.

Michael Schaefer (Ex-Botschafter) kommentiert im „Hauptstadtbrief“ (29. Oktober), dass „die Ära Deng Xiaopings, die China 40 Jahre Wohlstandsentwicklung beschert hat, endgültig beendet“ sei. Der „unausweichliche Paradigmenwechsel“ sei durch den Parteitag besiegelt worden. Der Ex-Diplomat macht sich Gedanken, wie Deutschland und wie Europa auf diesen Paradigmenwechsel reagieren müssen. Es gehe nicht mehr um ein business as usual, sondern um eine Neudefinition der Beziehungen zu China: „Europa muss China deutlich machen, wo es sich im geoökonomischen und geopolitischen Konflikt zwischen USA und China verortet.“ Wertemäßig sei Europa Amerika zwar viel näher, aber es gebe signifikante unterschiedliche Interessen zwischen den beiden globalen Wirtschaftsmächten USA und Europa.

Willy WoLap Lam (The Jamestown Foundation) analysiert im „China Brief“ (24. Oktober) vor allem die personellen Veränderungen in den Spitzengremien der Partei. Im Politbüro und dessen Ständigem Ausschuss seien „largely apparatchiks with expertise in areas such as ideology, propaganda, and party construction“. Er konstatiert „a near-total absence of pragmatically minded technocrats experienced in finance and economics”. Die Xi Jinping Faction (er kürzt sie mit XJPF ab) habe gesiegt, es gebe im Politbüro keine Vertreter der Kommunistischen Jugendliga und der Shanghai Gang mehr. Daneben sieht WoLap Lam noch einen weiteren größeren Triumph Xis auf dem Parteitag, nämlich die Aufnahme von „Xi Jinping Thought on Socialism with Chinese Characteristics for a New Era“ in die neue Parteiverfassung. Er kritisiert, dass der Parteitag „was focused almost entirely on theoretical concepts”.

Für Jörg Wuttke (Europäische Handelskammer in China, Beijing) hat in der Personalpolitik der Partei ein „fundamentaler Wandel“ stattgefunden: „Personen gelangen nicht mehr auf Basis meritokratischer Qualitäten in Top-Positionen, sondern durch ihre Loyalität zum Präsidenten“, sagt Wuttke in einem Interview mit „The Market NZZ“ (25. Oktober). In den nächsten fünf Monaten (bis zum Nationalen Volkskongress) werde praktisch die ganze wirtschaftspolitische Elite auf einen Schlag abtreten. Wuttke: „Das ist in einer Zeit, in der die chinesische Wirtschaft ohnehin schon lahmt, gefährlich.“ Für Wuttke hat der wirtschaftliche Kompetenzverlust an der Spitze zwei Folgen. Erstens: „Die Marktöffnung wird nicht mehr weitergehen.“ Und zweitens: Wir müssen uns vom Gedanken verabschieden, Chinas Politik sei im Grunde immer noch auf Wirtschaftswachstum zugeschnitten.“

Info:

Wer Lust auf und Interesse an langen Dokumenten hat, hier die Links zu Xis Bericht: https://english.news.cn/20221025/8eb6f5239f984f01a2bc45b5b5db0c51/c.html?utm_source=substack&utm_medium=email und zu der neuen Parteiverfassung: https://english.news.cn/20221026/d7fff914d44f4100b6e586372d4060a4/c.html?

No Comments Yet

Comments are closed