OLD CHINA HAND I Jörg Wuttke, “Mr. Europe” in China

China Hands wurden im 19. Jahrhundert die wenigen Ausländer genannt, die sich in China auskannten, dessen Sprache und Kultur verstanden- oder zumindest so taten. Später wurden daraus Old China Hands, Leute mit 20 oder von mehr Jahren Erfahrung im Reich der Mitte. Es gibt aber auch zunehmend junge Leute, die sich intensiv mit China beschäftigen, die aber oft nicht zu Wort kommen. Deshalb werde ich neben Old China Hands auch Young China Hands vorstellen – auch wenn Letzteres per definitionem ein Widerspruch ist. Heute wird eine Old China Hand vorgestellt: Jörg Wuttke (63).

Dieses Porträt erschien zuerst in der neuen Serie „Hirns Köpfe“ auf der Homepage von China Netzwerk Baden-Württemberg (CNBW). Das CNBW ist eine Plattform für Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, die zu einem besseren Verständnis insbesondere zwischen Baden-Württemberg und China beitragen möchte. Mehr unter: https://china-bw.net/de/cnbw

Am 29. August 1982 überquerte ein junger Mann aus dem Kraichgau mit dem Zug der Transsibirischen Eisenbahn die mongolisch-chinesische Grenze. Aus den Lautsprechern tönte Frank Sinatras Hit „Strangers in the Night“. Der Grenzgänger, der damals gegen Mitternacht zum ersten Mal mit ein paar Kumpels nach China einreiste, war Jörg Wuttke. Der Student wollte unbedingt das Land kennenlernen, dessen Sprache er zu erlernen versuchte.

Jetzt, fast genau 40 Jahre später, ist Jörg Wuttke schon lange kein Fremder mehr – weder in China, wo man ihn bis in die höchsten Parteigremien kennt, noch in Berlin oder Brüssel, wo man seine China-Expertise schätzt. Und auch die internationalen Medien – ob Wall Street Journal oder South China Morning Post, ob CNN oder ZDF – zitieren gerne Mister Europe, weil er Klartext spricht. Sein offizieller Titel lautet Präsident der Europäischen Handelskammer in China (englisches Kürzel: EUCCC). Wuttke ist längst die Stimme der europäischen Wirtschaft in China. Niemand, auch kein Diplomat, hat mehr Einfluss (von China-Expertise erst gar nicht zu reden) als Jörg Wuttke.

Vom Kraichgau in die große weite Welt – eine ungewöhnliche Karriere.

In Ulm geboren landete Jörg Wuttke nach ein paar Umzügen mit der Familie (sein Vater war bei der Bundeswehr) schließlich mit acht Jahren in Wiesenbach, einem 3000-Seelen-Dorf im Kraichgau. Eine Region, mit der er auch heute noch eng verbunden ist. Im Kraichgau hat er ein Haus, um das sich sein Sohn kümmert. Er ist Fan der TSG Hoffenheim, deren sagenhaften Aufstieg aus der Bezirks- in die Bundesliga er mitverfolgte. Hoffenheim lag einst auf seinem Schulweg nach Sinsheim, wo er das Abitur machte.

Nach dem Abi ging er nach Tübingen, um Sinologie zu studieren. Nur ein Semester verbrachte er dort. Eine schwere Operation unterbrach das Studium. Er wechselte danach nach Heidelberg, versuchte es nochmals mit Sinologie. Günther Debon und Siegfried Englert waren seine Lehrmeister. „Aber ich fand keinen Draht zur Sinologie“, sagt er heute. Er wollte lieber gleich vor Ort die Sprache lernen und bewarb sich beim DAAD und der Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS) um ein Stipendium – und kassierte Absagen. Warum? „Ich hatte einen für sie irrealen Berufswunsch: Ich wollte Manager in China werden.“ Das verstanden weder DAAD noch FNS. „Was wollen Sie denn denen verkaufen“, fragten sie.

Aber ein Jörg Wuttke lässt sich nicht so leicht abschmettern und sagte sich: „Dann gehe ich eben dahin, wo ich mir das selbst finanzieren kann“. Und das war Taiwan. 1984 zog er mit Frau und Kleinkind auf die Insel. Mit Englisch-Unterricht und Auftritten als Fotomodelle finanzierten sie das Sprachstudium. Wuttke lernte auf Taiwan die Sprache, aber er lernte auch noch etwas anderes kennen, nämlich „eine chinesische Kultur, die nicht durch den Kommunismus geprägt oder zerstört war.“ Eine Haltung, die ihn bis heute prägt: „Ich liebe China, aber nicht dieses System.“

1985 gingen die Wuttkes zurück in die Heimat. Er studierte an der Berufsakademie in Mannheim und fing danach in Käfertal beim Elektrokonzern BBC (Brown, Boveri & Cie.) an, der wenig später mit der schwedischen Asea zur ABB fusionierte. Aber als Wuttke 1987 für das Unternehmen nach Shanghai geschickt wurde, hieß es noch BBC, was zu lustigen Verwechslungen führte. Als er sich mit „Mr. Wuttke, BBC“ vorstellte, bekam er häufig zur Antwort: „I don´t give Interviews.“ Bis 1990 blieb er in Shanghai, dann ging er aus beruflichen (maues Geschäft nach dem Tiananmen-Massaker) und privaten Gründen (Scheidung) zurück ins deutsche Headquarter von ABB nach Mannheim, wo er zunächst Gasturbinen verkaufte.

1993 dann erneuter Umzug nach China. Im dortigen ABB-Büro war er für Großprojekte zuständig. Ein Kunde war die BASF, die damals ihren gigantischen Verbundstandort in Nanjing aufbaute. Die BASF kaufte ein Kraftwerk von ABB und Wuttke gleich mit. Seit 1997 ist Wuttke nun Generalbevollmächtigter der BASF in China. Bekannt und einflussreich wurde er aber durch sein Ehrenamt als mehrmaliger Präsident der EUCCC, die er einst mitbegründete. Die Idee hatte jedoch EU-Handelskommissar Pascal Lamy, der um die Jahrtausendwende die Beitrittsverhandlungen zur WTO mit China führte. Lamy forderte, dass die europäische Wirtschaft in China mit einer Stimme sprechen sollte. Wuttke und Ernst Behrens, der damalige China-Chef von Siemens, griffen die Idee auf und initiierten die EUCCC. Heute ist die EUCCC eine wichtige und anerkannte Stimme. Das ist sicher auch Jörg Wuttke zu verdanken, der sich derzeit in seiner dritten Amtszeit als Präsident befindet. Schon fast legendär ist der jährliche EUCCC Business Confidence Survey, in dem auf mehreren 100 Seiten die Sorgen und Nöte der europäischen Wirtschaft aufgelistet werden. Aber die EUCCC jammert nicht nur. „Wir sagen auch was Positives. Das gibt uns Glaubwürdigkeit,“ erklärt Wuttke.

Wuttke ist deshalb auch ein angesehener Gesprächspartner auf höchster politischer Ebene. Er kennt fast alle Mächtigen persönlich. Einen mag er besonders: Zhu Rongji, der Premierminister um die Jahrtausendwende war „Mein persönlicher Held“ tituliert er ihn, weil er damals mit Brachialgewalt Reformen durchgesetzt habe. Sein „bester Kumpel“ ist Fang Xinghai, ein enger Vertrauter von Xi Jinping und einst die rechte Hand von Vizepremier Liu He. „Unsere Familien sind befreundet“, sagt Wuttke, „so etwas ist in China leider sehr selten.“

Wuttke spricht dabei auch unbequeme Themen an. Zum Beispiel die Null-Covid-Politik, deren Opfer er selbst ist. Seit Februar 2020 war er nicht mehr im Ausland, weder in Berlin noch Brüssel, wo er in Vor-Corona-Zeiten fast monatlich auftauchte. Aber was noch viel schlimmer sei: „Ich war seit November 2021 nicht mehr außerhalb von Beijing. Mein Wirkungskreis ist ganz klein geworden.“

Nicht nur Covid setzt ihm zu, sondern auch der Kurs der politischen Führung. Er sei ja durch das China der 90er Jahre sozialisiert worden: Aufbruchstimmung, Reformeuphorie, gar zarte Hoffnung auf einen politischen Wandel. Alles vorbei. Er sagt: „Wir haben uns beide – China und ich – verändert.“ Zweimal spielte er deshalb um das Jahr 2018 mit dem Gedanken, China zu verlassen. Einmal als Nachfolger von Sebastian Heilmann als Direktor des Merics in Berlin, zum anderen als FDP-Kandidat für das Europäische Parlament. Beides zerschlug sich.

Er blieb in China und musste feststellen: „China wird immer dünnhäutiger.“ Er aber auch. Kürzlich gab er „The Wired“ ein ziemlich China-kritisches Interview. Danach merkte er selbstreflektierend: „Mensch Jörg, Du bist sauer und verärgert.“

Vielleicht ist es in diesem Zustand gut, dass seine Amtszeit endlich ist. Sein Vertrag mit der BASF läuft bis Juli 2024. Dann wird er 65 Jahre alt. „Und dann ist auch China für mich vorbei“, kündigt er an. Dann zurück ins geliebte Kraichgau? Noch nicht. Er denkt über einen Umweg über die USA nach. Dort würde er gerne für einen Thinktank seine China-Expertise einbringen. Schließlich muss er noch etwas Geld verdienen, denn seine drei Kinder aus zweiter Ehe sind erst 11, 12 und 14 Jahre alt. Die sollen alle eine gute Ausbildung bekommen. „Ich kann also schlecht aufhören“. Außerdem drängt ihn seine Frau – übrigens die Tochter des früheren russischen Botschafters in China – zum Schreiben seiner Memoiren.

Wir werden also auch in den nächsten Jahren weiterhin viel von Jörg Wuttke hören – und lesen.

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