Es war in der Weihnachtszeit 2017. Joachim Lang und Stefan Mair – beide in sehr leitender Funktion beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) – kamen damals zu dem Ergebnis, die deutsche Wirtschaft müsse sich gegenüber China neu positionieren, am besten in einem Papier. Der Diskussionsprozess begann – intern und extern. In drei Workshops – mit China-Experten, der Politik und der Wirtschaft – wurden Eindrücke, Meinungen und Stimmen gesammelt. Niedergeschrieben wurde alles in einem Papier, dessen Schlussredaktion BDI-Pressechef Jobst-Hinrich Wiskow übernahm. Am 10. Januar 2019 wurde das Papier veröffentlicht und machte weltweit Karriere. Vor allem wegen des Dreiklangs Partner-Konkurrent-systemischer Wettbewerber. In den Folgemonaten und -jahren tauchte diese Dreiteilung in vielen Papieren auf: Es fand sich bei der EU-Kommission, den Parteien – und auch in den USA. Mit einem Vater dieses Papiers, mit Joachim Lang, sprach ich dieser Tage, weil er soeben zusammen mit BDI-Präsident Siegfried Russwurm auch ein Buch herausgegeben hat: „Wie soll die Wirtschaft mit Autokratien umgehen?“. Lang hörte Ende Mai beim BDI auf. Er ist inzwischen Partner beim Beratungsunternehmen Strategic Minds (früher Bingmann Pflüger International) in Berlin.
Herr Lang, Ihr Buch trägt den Titel „Wie soll die Wirtschaft mit Autokratien umgehen?“ Lange Zeit war das gar keine Frage. Aber jetzt ist sie plötzlich sehr aktuell. Warum?
In den letzten 20 Jahren hat sich der gesellschaftliche Mainstream im Umgang mit schwierigen Ländern verändert. Wir haben eine deutlich moralischere Herangehensweise an Sachthemen. Die Erwartung an Politik und Wirtschaft, moralische Aspekte stärker in die Entscheidungsfindung miteinzubeziehen, hat zugenommen. Das ist ein schleichender Prozess, der über mehrere Jahrzehnte stattgefunden hat. Ausgangspunkt ist das Umfeld, in dem die Grünen groß geworden sind. Dazu gehören die Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegung sowie die Gleichstellungsdebatte. Daraus ist eine Richtig-und-Falsch-Atmosphäre entstanden, die zunächst von der Politik wahrgenommen wird, weil sie ganz feine Antennen für gesellschaftliche Entwicklungen hat.
Die Wirtschaft hat diese Antennen nicht?
Viele Unternehmen werden überwiegend von Ingenieuren oder Betriebswirten geführt. An der politischen Debatte nehmen überproportional viele Geisteswissenschaftler teil. Wer hauptberuflich ein Unternehmen führt oder maßgeblich steuert, sagt sich: Interessant, aber ich kümmere mich um mein Business, damit bin ich voll ausgelastet. Aber diese Haltung ist nicht mehr zeitgemäß. Unternehmer und Manager müssen sich mehr in gesellschaftliche Diskussionen einbringen. Zunehmend werden die Unternehmen mit Fragen konfrontiert wie zum Beispiel: Wie könnt ihr in einem bestimmten Land noch Geschäfte machen? Habt ihr denn kein schlechtes Gewissen? Diese Fragen wurden früher nicht so oft gestellt. Heute aber schon, vor allem auch von den Medien.
Die bösen Medien?
Ich sehe das analytisch. Die Medien sind ein ganz wesentlicher Verstärker dieser Entwicklung. Sie haben dabei in Teilen ihre Rolle verändert. Sie sind oft nicht mehr die neutralen Berichterstatter, sondern lassen Sympathien für eine Seite erkennen. Sie stellen mehr als bisher unbequeme Fragen, die von den Unternehmen vernünftig beantwortet werden müssen.
Aber waren bzw. sind die Unternehmen darauf überhaupt vorbereitet?
Nein, deshalb haben wir beim BDI vor zwei Jahren eine Diskussion angestoßen, sich mit diesen Fragen intensiver zu befassen. Wir wollten ein Bewusstsein schaffen, auch weil die Beantwortung dieser Fragen heute eine viel höhere Bedeutung hat als jemals zuvor. Eine falsche oder nicht zufriedenstellende Antwort kann dazu führen, dass zum Beispiel eine Kampagne gegen ein Unternehmen geführt wird. Dabei kann es sogar um das Überleben eines Unternehmens gehen. Wir empfehlen deshalb, diese moralischen und geostrategischen Fragen zur Chefsache zu machen.
Ist die Bereitschaft hierzu denn bei den Vorständen da?
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine definitiv. Spätestens Russland ist eine Warnung, dass man einen Plan haben muss, wenn es zu einer kritischen Situation kommt. Die Vorstände müssen mehr in Szenarien denken. Das machen natürlich die Dax- und ein paar M-Dax-Unternehmen. Sie leisten sich eigene Strategieabteilungen. Aber es gibt tausende von Unternehmen, die weder eine Strategieabteilung noch eine Szenarioplanung haben. Aber auch diese müssen zu einer neuen Risikoanalyse kommen, die geopolitische Risiken viel stärker in die Entscheidungsprozesse miteinbezieht. Dazu gehört auch, sich die Fragen zu stellen: Gibt es Konstellationen, in denen ich mein Business reduzieren oder mich gar aus einem Land zurückziehen muss?
Wäre ein chinesischen Angriff auf Taiwan eine solche Konstellation?
Keine Frage. Unternehmen müssen auf diesen Tag vorbereitet sein.
Halten Sie denn eine militärische Attacke für realistisch? China würde sich ja wirtschaftlich selbst sehr schaden.
Für die Kommunistische Partei Chinas ist konsequentes Handeln wichtiger als wirtschaftlicher Erfolg. Das sieht man ja auch an der aktuellen Covid-Politik des Landes.
Aber was bedeutet dieses Schreckens-Szenario für Unternehmen, die einen hohen Umsatzanteil in China haben?
Wenn ich zum Beispiel 40 Prozent meines Umsatzes in China mache, beantwortet sich die Frage fast von selbst. Ein solcher Konzern wäre in seiner Existenz bedroht, wenn er auf diesen Markt verzichten müsste. Da müsste auch der Aufsichtsrat intervenieren und mahnen: 40 Prozent in einem Land, das ist ein Klumpenrisiko. Mittelständler denken da oft anders. Sie haben eher nicht 40 Prozent ihres Geschäftes in China. Von Mittelständlern höre ich öfters: Für jeden Euro, den ich in China investiere, investiere ich einen Euro in einem anderen Land oder einer anderen Region. Sie sagen sich: Ich wachse mit dem chinesischen Markt, setze aber nicht alles auf diesen Markt.
Welche Alternativen zum Wachstumsmarkt China gibt es denn?
Viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika. Schauen Sie sich zum Beispiel den japanischen Autohersteller Toyota an. Der produziert in etwa so viel Autos wie sein großer deutscher Rivale Volkwagen, ist aber regional viel breiter und damit risikoaverser aufgestellt als Volkswagen.
VW-Chef Herbert Diess sagt gerne, dass man nicht nur mit Demokratien Handel treiben könne, denn das wäre das Ende des deutschen Wirtschaftsmodells. Hat er Recht?
Professor Julian Nida-Rümelin hat kürzlich dazu einen nachdenklich stimmenden Beitrag geschrieben. Wenn wir einen so hohen moralischen Anspruch haben, bei dem wir alle anderen daran messen, wie wir sind, dann wird der Anteil der Länder, mit denen wir reden und handeln können, sehr klein. Wir dürfen es also mit dem moralischen Anspruch nicht zu weit treiben. Die Frage ist nur wie weit? Genau darüber brauchen wir eine Diskussion in Politik und Wirtschaft. Aber diese hat ja angefangen.