Eine Videokonferenz mit über 100 000 Teilnehmern. Das schafft nur China. Natürlich waren nicht alle Konferenzteilnehmer in Briefmarkengröße auf einem Bildschirm zu sehen. Das hätte den Rahmen gesprengt. Wichtig war, dass einer zu sehen war: Li Keqiang, Ministerpräsident des Landes. Er hielt an diesem 25. Mai eine Art Brand-Rede. Zum ersten Mal räumte er öffentlich ein, dass das diesjährige Wachstumsziel von 5,5 Prozent verfehlt werden könnte. Er sprach von rückläufigen Steuereinnahmen und steigenden Arbeitslosenzahlen. Unter den 16 bis 24jährigen sind sie besonders hoch: Fast jeder fünfte in dieser Altersgruppe ist ohne Job. Li appellierte deshalb an die online versammelte Funktionärsschicht: „Do everything possible to expand employment“.
Chinas Wirtschaft ist in keinem guten Zustand. Der Grund hat einen Namen: Covid. Durch die strikte Null-Covid-Strategie mit seinen permanenten Lockdowns kommt es wieder zu Fabrikschließungen und Unterbrechungen in der Lieferkette. Im zweiten Quartal wurde gerade noch ein Wachstum von 1,8 Prozent erreicht. Angesichts dieser Zahlen muss Beijing handeln. Zwei Tage vor der Brandrede Li Keqiangs tagte unter seiner Führung der Staatsrat. Auch da sprach Li klare Worte: „The economy is to some degree worse than it had been at the start of the pandemic in the early 2020.” Der Staatsrat verabschiedete auf dieser Sitzung ein 33-Punkte-Paket. Es ist nicht der große Wurf, kein gigantisches Stimulus-Paket, wie einst nach der globalen Finanzkrise. Es ist eine Summe von vielen einzelnen Maßnahmen, darunter Steuererleichterungen, Kredithilfen (vor allem für kleine Unternehmen) und Konsumanreize. In die Pflicht nahm Li vor allem die Provinzen und die Städte. Aber gerade letztere haben weniger Geld in ihren Kassen, da sie wegen Corona weniger Land verkaufen können.
Beobachter zweifeln deshalb, ob die verabschiedeten Maßnahmen ausreichen, um die sinkenden Wachstumsraten zu stoppen. Die großen Investmentbanken reduzieren permanent ihre Erwartungen nach unten. UBS geht nur noch von einem Wachstum von 3,7 Prozent aus, J. P. Morgan von drei Prozent. Bloomberg Economics erwartet gar nur ein Wachstum von zwei Prozent. Auf jeden Fall wird China seit 1998 (damals waren die Auswirkungen der Asien-Krise die Ursache) das Wachstumsziel verfehlen. Besonders pikant: Damit würde Chinas Wirtschaft zum ersten Mal seit Jahrzehnten weniger wachsen als die USA, die dieses Jahr ein Wachstum von 2,8 Prozent erwartet.
Chinas Führung hat sich mit ihrer Null-Covid-Politik in ein schwer lösbares Dilemma manövriert. Aus diesem herauskommen würde sie nur durch eine Lockerung dieser restriktiven Politik. Aber daran – das betont die Führung in Beijing immer wieder – denkt sie nicht.