POLITIK I Ahnungslos im Systemwettbewerb – Deutschland fehlt China-Kompetenz

Der Befund zum Stand der China-Kompetenz in Deutschland ist fast schon banal: Angesichts der Bedeutung, die China in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht inzwischen weltweit hat, sind Stand wie auch die Vermittlung von Kompetenzen zu China und Chinesisch erschreckend gering – und das gilt für Politik, Wirtschaft und Bildung, mit wenigen Ausnahmen. Diese Grunderkenntnis zog sich schon durch die China-Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) 2015-2020 und die Studie der Bertelsmann-Stiftung „China 2030. Szenarien und Strategien für Deutschland“ von 2016. Sie ist durch die Merics-Studie „China kennen, China können“ 2018 noch einmal untermauert und im EFI-Gutachten 2020 erneut besonders betont worden. Und schließlich machte die 2020 publizierte Studie von Rainer Lisowski und Gerd Schwandner über China-Kompetenzen auf städtischer Ebene deutlich, dass China auch auf der Verwaltungsebene „Terra incognita“ ist.

Das Bewusstsein um die Defizite in der Auseinandersetzung mit China, wie auch damit verbundene Handlungsempfehlungen, sind nicht neu. Bereits 1997 erschien eine kurze Analyse zur Standortbestimmung der Asienwissenschaften in Deutschland von Günter Schucher in der Zeitschrift „Asien“. Der Ergebnisse zu Asien sind heute noch genauso auf China anwendbar: Asien wird immer wichtiger, somit werden Kompetenzen in Politik, Wirtschaft und Kultur „zu einer unabdingbaren Voraussetzung für jeden in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und in der allgemeinen Öffentlichkeit Tätigen“ (Schucher). Zwei Jahre danach folgte eine Studie zur „Modernisierung der Ostasienforschung“ von Anja Osiander und Ole Döring, die eine gut recherchierte Bestandsaufnahme mit einer Analyse der Stärken und Defizite verband und eine Reihe von Empfehlungen formulierte, zum Beispiel den Ausbau der Ostasienwissenschaften, eine stärkere Anbindung an die internationale Ostasienforschung und die Schaffung übergreifender Strukturen. Wären die damaligen Vorschläge wenigstens in Teilen umgesetzt worden, wären wir in Sachen China-Kompetenz heute einen großen Schritt weiter.

Konkrete Schritte brachte aber erst die China-Strategie des BMBF, die 2015 vorgestellt wurde. Darin wurden Chinas Entwicklung und Bedeutung wie auch die Chancen und Risiken für Deutschland und insbesondere die Folgen für die Zusammenarbeit in Wissenschaft, Forschung und Bildung umrissen. Die Ausführungen mündeten in der Festlegung von Aktionsfeldern und Maßnahmen der zukünftigen Zusammenarbeit. An erster Stelle wurde die „Schaffung einer breiteren China-Kompetenz in Deutschland“ genannt. Insbesondere sollten die China-Kompetenzen an deutschen Hochschulen durch innovative Konzepte ausgebaut werden.

Die im folgenden Jahr vorgelegte Bertelsmann-Studie „China 2030“ analysierte in mehreren Szenarien zukünftige mögliche Entwicklungen von Austausch und Konflikt mit China. Zu den „Handlungsfeldern“, auf denen Deutschland Hausaufgaben zu bewältigen hat, zählte als eigener Punkt die Stärkung der China-Kompetenz, die in jedem künftigen Szenario besonders für Entscheider in Wirtschaft und Politik geboten sei. Dazu empfahl die Studie die Erarbeitung einer China-Strategie, die Vertiefung von Bildungskooperationen und die Verbreitung von Chinesisch als Fremdsprache.

Der nächste große Schritt war 2018 die Studie „China kennen, China können“ des Mercator Institute for China Studies (Merics). Als das BMBF 2018 die Merics-Studie gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt und der Kultusministerkonferenz der Öffentlichkeit vorstellte, waren sich alle Akteure einig: „Es geht darum, die China-Kompetenz in allen Bereichen zu fördern“, so brachte es der damalige Forschungsstaatssekretär Georg Schütte auf den Punkt. Er fügte hinzu, dass diese Aufgabe nur „im Schulterschluss von Bund und Ländern gelingen“ könne. Die Studie formulierte damals eine ganze Liste von erforderlichen oder wünschenswerten Maßnahmen, besonders auf der Ebene von Schulen und Hochschulen. Neben konkreten Einzelmaßnahmen hielten die Autoren des Merics besonders die intensive Vernetzung von Angeboten und Experten für geboten, wie auch einen intensiven Austausch der beteiligten und interessierten Einrichtungen. Der Vermittlung von China-Kompetenzen an deutschen Hochschulen war ein ganzes Kapitel gewidmet, ein Unterkapitel behandelte den Aufbau von China-Kompetenz in der  Hochschulverwaltung, hier wurde ein besonders dringlicher Bedarf konstatiert.

Auch das Gutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation für 2020 (EFI-Gutachten) kam zu ähnlichen Ergebnissen und brachte die Befunde noch einmal auf den Punkt: „Ein produktiver wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Austausch mit China braucht Köpfe, die mit der chinesischen Sprache und Kultur gut vertraut sind sowie die dortigen Märkte, institutionellen Rahmenbedingungen und politischen Strukturen gut kennen. Eine solche umfassende China-Kompetenz ist in Deutschland bisher aber kaum anzutreffen.“ Die EFI empfahl die Einrichtung einer zentralen Kompetenzstelle, die ein umfassendes Informations- und Beratungsangebot bereithalten sollte sowie eine allgemeine Stärkung von Forschung und Lehre, die zum Verständnis des aktuellen China beiträgt.

An der Dringlichkeit, China-Kompetenzen im Interesse deutscher wie europäischer wirtschaftlicher und politischer Interessen deutlich mehr zu fördern, hat sich durch die Covid-19-Pandemie und den sich zunehmend verschärften Konflikt zwischen den USA und China nichts geändert. Im Gegenteil. Gerade wenn es um die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Austausches, aber auch um die Kooperation im Bildungs- und Wissenschaftsbereich geht, ist eine fundierte Kenntnis der Verhältnisse auf chinesischer Seite um so wichtiger. Und der Stand dieser Kenntnisse ist gerade in den Verwaltungen oftmals gering, dies betrifft sowohl Universitäten in der Anbahnung von Kooperationen wie auch Städte bei dem Aufbau von Partnerschaften. So stellten Lisowski und Schwandner in ihrem Buch über deutsche Städtepartnerschaften mit China fest, dass es den Verwaltungschefs von deutscher Seite weitestgehend am Verständnis der politischen und Verwaltungsstrukturen in der Volksrepublik fehle: „Teilweise werden selbst die gravierendsten Probleme nicht voll verstanden“. Insgesamt stellen die Autoren fest, dass das politische System der Volksrepublik China bei westdeutschen Politikern in der Regel „terra incognita“ ist. Das deckt sich mit dem Befund der Recherche der Journalistin Friederike Haupt, die in einem Artikel in der FAZ vom 21. Dezember 2019 feststellte, dass von sämtlichen Bundestagsabgeordneten nur ein Abgeordneter der FDP über Grundkenntnisse verfügte und nur eine einzige Abgeordnete über nennenswerte Chinesisch-Kenntnisse verfügt: Die Fraktionsvorsitzende der AfD, Alice Weidel.

Die bislang angelaufenen Maßnahmen beschränken sich aber in erster Linie auf einzelne Projekte an Universitäten. Für das Programm „Ausbau der China-Kompetenz an deutschen Hochschulen“ wurden von 80 Anträgen elf Projekte für einen Zeitraum von 2017 bis 2022 ausgewählt. Sie konzentrieren sich vor allem im Südwesten. Darunter sind zahlreiche herausragende Projekte, wie das ChinaForum Tübingen, das sich mit der Vertiefung der Chinakompetenz und dem Aufbau einer modellhaften Vernetzungsstruktur beschäftigt.

So herausragend diese Projekte sicherlich sind, greifen die bisherigen Maßnahmen aber deutlich zu kurz. Sie sind größtenteils ebenso räumlich wie zeitlich begrenzt, und das Programm ist allein auf den Hochschulbereich ausgerichtet. Dazu fehlt es bislang an den vom Merics empfohlenen übergreifenden Vernetzungsmaßnahmen, sowohl beim Austausch zwischen Personen und Einrichtungen, wie auch beim zentralen Zugriff auf wichtige Informationen. So empfiehlt das EFI-Gutachten ausdrücklich die Einrichtung einer zentralen Kompetenzstelle für deutsche Wissenschaftler/innen, beispielsweise zu rechtlichen Fragen von Kooperationen. Solche Strukturen sind wichtig, aber bislang noch nicht einmal in Sicht – selbst auf Länderebene sind regionale oder überhaupt ortsübergreifende Projekte Mangelware.

Die aktuelle Entwicklung des Chinadiskurses schadet den China-Kompetenzen noch von einer anderen Seite. Das National Committee on United States-China Relations hat in einer aktuellen Studie die Entwicklung des Feldes der Chinastudien und damit der Institutionen untersucht, die im Wesentlichen China-Kompetenzen vermitteln (American International relations and security programs focused on China: A survey of the field, New York 2021). Auch wenn die Befunde sicher nicht vollständig übertragbar sind, können die wesentlichen Ergebnisse auch für Deutschland Gültigkeit beanspruchen: Auf der einen Seite gibt es einen wachsenden Bedarf an Wissen und Informationen über China, auch gerade in der Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite geraten Institutionen wie auch einzelne Fachleute zwischen die Mühlsteine der politischen Auseinandersetzung: Die zunehmend chinakritischen Diskurse erschweren die chinabezogene Forschung, engen die Möglichkeiten von Wissenschaftlern ein und beeinträchtigt die Forschung. China wird im politischen und öffentlichen Diskurs „reduced to a target […], rather than a complex subject of multidisciplinary study.“[1]

Obwohl auf der einen Seite mehr über China berichtet wird, geht dies eher mit einem Verlust von Kompetenz einher. Es gibt zwar eine zunehmende Zahl selbsternannter Chinaexperten, viele verfügen aber nur über geringe Erfahrung und unzureichende Kenntnisse. Die Studie faßt das Problem so zusammen: „Everyone is a China expert these days. Or wants to be.“[2]

Mit der neuen Bundesregierung schienen im Dezember 2021 neue Perspektiven aufzutauchen. In ihrem Koalitionsvertrag hatten die Parteien der Ampel ausdrücklich festgehalten, Asien- und China-Kompetenz deutlich ausbauen zu wollen. Doch offenbar war die Hoffnung verfrüht, nennenswerte Maßnahmen kamen nicht in Sicht. In einer Kleinen Anfrage vom 1. April 2022 erkundigte sich die CDU/CSU-Fraktion nach dem Stand des Ausbaus der Asien- und China-Kompetenz im deutschen Wissenschaftssystem. Die Antwort der Bundesregierung vom 20. April war ernüchternd: Anstelle der dringend gebotenen Maßnahmen folgte lediglich eine Aufzählung diverser Einzelmaßnahmen, die allesamt nicht wirklich neu sind. Von der Schaffung einer zentralen Kompetenzstelle oder Plattformen, die Kompetenzen bündeln und geeignete Maßnahmen vorschlagen könnte, fehlt jede Spur. Dass gerade die FDP sich vorher für den Ausbau der China-Kompetenzen stark gemacht hatte, um Deutschland gegen mögliche chinesische Einflussnahme zu wappnen, scheint inzwischen längst vergessen zu sein, wie der Newsletter der ZEIT Wissen Drei vom 28. April 2022 konstatierte. Dem bildungs- und forschungspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Thomas Jarzombek, ist zuzustimmen, wenn er kritisiert, dass der Bund versucht, die Verantwortung im Hochschulbereich auf die Länder abzuschieben und fordert, der Bund müsse „eine flächendeckende Stärkung der China-Kompetenz sicherstellen.“

Deutschland braucht mehr China-Kompetenz, und zwar nicht nur auf der Ebene von Universitäten und Wissenschaft. Gerade in Zeiten, in denen das politische Klima rauer wird, ist es fahrlässig, dieses Gebiet zu vernachlässigen. Und wenn man nach Großbritannien oder auf die USA blickt, ist festzustellen, dass das Thema China deutlich ernster genommen und mit mehr Energie und den entsprechenden Mitteln angegangen wird. Angesichts globaler Herausforderungen braucht Deutschland globale Kompetenzen, und dafür reicht eine Handvoll von tatsächlichen oder eingebildeten Experten nicht aus. Mitunter kann der Autor sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Katze hier in den Schwanz beißt: fehlen den entscheidenden Personen die nötigen China-Kompetenzen, um wirklich zu begreifen, wie wichtig China-Kompetenzen sind?

Info:

Bertelsmann-Stiftung (2016), China 2030. Szenarien und Strategien für Deutschland, Gütersloh

Bundesministerium für Bildung und Forschung (2015), China-Strategie des BMBF 2015-2020 – Kurzfassung, Bonn

Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) (2020), Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands, Berlin

Lisowski, Rainer/Schwandner, Gerd (2020), Nach China! Beziehungen deutscher Städte in die Volksrepublik, Münster: LIT

National Committee on United States-China Relations (2021), American International relations and security programs focused on China: A survey of the field, New Yow York

Osiander, Anja/Döring, Ole (1999), Zur Modernisierung der Ostasienforschung. Konzepte, Strukturen, Empfehlungen [Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg, Nummer 305], Hamburg.

Schucher, Günter (1997), Die deutschen Asienwissenschaften an der Schwelle zum 21. Jahrhundert: Eine Standortbestimmung, in: Asien. Deutsche Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur Nr. 65 (Oktober 1997), S. 143-150.

Stepan, Matthias/Frenzel, Andrea/Ives, Jaqueline/Hoffmann, Marie (2018), China kennen, China können. Ausgangspunkte für den Ausbau von China-Kompetenz in Deutschland, MERICS China Monitor; Berlin

____________________________________________

*Cord Eberspächer ist Privatdozent an der Universität Bonn, wo er 2019 auch habilitierte. Er studierte Geschichte und Sinologie und beschäftigt sich vor allem mit der modernen Geschichte Chinas. 


No Comments Yet

Comments are closed