Am vergangenen Sonntag tauchte John Lee (64) plötzlich morgens um 10 Uhr in der Shanghai Street auf, huschte über den Obst- und Gemüsemarkt, grüßte ein paar Besitzer der Stände und verschwand dann in einem der typischen tong-lau-Gebäude, wie die Hochhäuser in Hongkong genannt werden, die im vergangenen Jahrhundert hochgezogen wurden und die eher Zellen statt Wohnungen haben. Hier besuchte John Lee eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die auf 15 Quadratmetern hauste, und eine ältere Frau, die gerade mal vier Quadratmeter zur Verfügung hat.
Nach diesen Wohnungsbesichtigungen sagte Lee der wartenden Journalistenmeute: „I understand housing is a key to the solutions of many important issues in Hong Kong.” Da hat er Recht: Die katastrophale Wohnungssituation ist Ursache großen Frusts, auch gerade unter den jungen Einwohnern. Lee könnte helfen, dieses Problem endlich anzugehen. Denn John Lee wird der neue Regierungschef Hongkongs. Das steht jetzt schon fest, obwohl die Wahl erst am 8. Mai stattfinden wird. Aber was heißt hier Wahlen? Lee ist der einzige Kandidat, der von 1462 Wahlmännern und -frauen bestimmt wird, die selbst nicht demokratisch legitimiert sind, sondern bestimmt werden.
Insofern wirkt es skurril, wenn er in diesen Tagen auf Wahlkampftour durch Hongkong geht und fährt. Er muss nicht um Stimmen kämpfen, aber vielleicht um Ansehen in der Sieben-Millionen-Stadt. Seine Vorgängerin Carrie Lam (64) war – milde ausgedrückt – nicht sehr beliebt. Sie stellte sich nach ihrer fünfjährigen Amtszeit nicht mehr zur Wiederwahl.
Nun also Lee, dessen Beliebtheit sich auch in Grenzen hält, war er doch bisher Chef der Sicherheitsbehörde (siehe CHINAHIRN 43). Leitmotiv seiner Kampagne ist „Starting a New Chapter for Hong Kong Together“. Das ist sehr allgemein. In seiner Campaign Speech wird er etwas konkreter: “For a long period of time, there have been a number of deep-rooted issues, including housing, healthcare and youth development etc., which have not been effectively resolved”, kritisiert er seine Vorgänger. In diesen vernachlässigten Politikfeldern will er tätig werden, schließlich bezeichnet er sich als eine pragmatische Person, die einen ergebnisorientierten Ansatz verfolge. Außerdem will Lee, der wenig Wirtschaftsexpertise hat, die Wettbewerbsfähigkeit Hongkongs erhöhen: „In the coming five years, starting a new chapter of development, Hong Kong must enhance its overall competitiveness.” Dabei setzt er vor allem auf die Greater Bay Area (GBA), ein wirtschaftlicher Zusammenschluss von Hongkong, Macau und neun Städten in der benachbarten Provinz Guangdong, darunter die Tech-Metropole Shenzhen, die Hongkong zunehmend den Rang abläuft. Welche Rolle Hongkong in diesem Konstrukt einnehmen wird, wird sich in den nächsten Jahren – also in der Amtszeit Lees – entscheiden. Lee sagt: „Hong Kong must maintain its characters of being an international metropolis.“ Dazu muss er aber den Genossen Trend zur Umkehr bewegen, denn in den vergangenen zwei Jahren haben viele Expats Hongkong verlassen. Viele Banker sind zum ewigen Finanzplatz-Rivalen Singapur gezogen. Die erratische Corona-Politik hat sicher – neben den politischen Unruhen – zu diesem Exodus beigetragen.
Es gibt also viel zu tun für den neuen Regierungschef John Lee. Immerhin hat er eingesehen, dass er die anstehenden Aufgaben nicht alleine schafft. Er will die Regierung neu organisieren und vergrößern.
Info:
Hier geht es zu der Wahlkampf-Homepage von John Lee: https://www.johnlee2022.hk/en/