Das Wort historisch wollte Josep Borrell dann doch nicht benutzen, aber das Dokument sei sicher „a turning point“ in der Europäischen Union. Der „Außenminister“ der EU sprach vom „Strategischen Kompass für Sicherheit und Verteidigung“, den er am 21. März in Brüssel vorstellte. Die deutsche Version zählt 47 Seiten. Es sind mehr geworden als ursprünglich geplant. Der russische Überfall auf die Ukraine erforderte bis zuletzt Ergänzungen. „We had a lot of last-minute work to do“, sagt Borrell. Zum ersten Mal hat die EU ein strategisches Papier zur Bedrohungslage vorgelegt.
Es ist nicht das einzige Papier, das derzeit in europäischen Amtsstuben entstand bzw. noch entstehen wird. Die NATO in Brüssel bereitet ihr Strategiepapier „Nato 2030“ vor. Es soll auf dem Nato-Gipfel am 29./30. Juni in Madrid verabschiedet werden. Und im Auswärtigen Amt (AA) am Werderschen Markt wird ebenfalls gebrütet. Dort entsteht derzeit – so ist es im Koalitionsvertrag festgelegt – eine Nationale Sicherheitsstrategie. Amtschefin Annalena Baerbock gab dazu am 18. März mit einer Rede im Weltsaal des AA den Startschuss. In allen Papieren und Reden wird natürlich sehr stark auf den russischen Überfall auf die Ukraine rekurriert. Aber auch China spielt eine zunehmend wichtigere Rolle in den Bedrohungsanalysen – ob in Brüssel oder in Berlin.
Im „Kompass“ der EU wird zunächst der übliche Dreiklang beschrieben: „China ist ein Kooperationspartner, wirtschaftlicher Wettbewerber und systemischer Rivale.“ Aber der Schwerpunkt wird auf Rivale gelegt. So heißt es: „Es (China) verfolgt seine Politik durch eine zunehmende Präsenz auf See und im Weltraum sowie durch den Einsatz von Cyber-Tools und hybriden Taktiken. Darüber hinaus hat China seine militärischen Mittel erheblich ausgebaut und strebt an, die umfassende Modernisierung seiner Streitkräfte bis 2035 abzuschließen, was sich auf die regionale und globale Sicherheit auswirkt.“ Ausführlich geht der „Kompass“ auch auf die indopazifische Region ein: „Ein neues Zentrum des globalen Wettbewerbs ist im indopazifischen Raum entstanden, wo geopolitische Spannungen die regelbasierte Ordnung in der Region gefährden und globale Lieferketten unter Druck setzen.“ Das könne die EU nicht hinnehmen: „Wir werden daher unsere Interessen in der Region schützen, auch indem wir das Primat des Völkerrechts im maritimen Bereich und in anderen Bereichen sicherstellen.“ Das beinhalte auch „eine verstärkte Präsenz der Marine im indopazifischen Raum“.
Annalena Baerbock lobt die EU, dass sie „erstmals so ausführlich wie noch nie eine sicherheitspolitische Strategie“ formuliert habe. Trotzdem braucht es ihrer Meinung nach auch eine (deutsche) Nationale Sicherheitsstrategie, die sie mit ihrer Rede am 18. März initiiert hat. Es war so etwas wie eine sicherheitspolitische Grundsatzrede. Interessant, dass sie in ihrer Weltsaal-Rede nur ein einziges Mal das Wort China in den Mund nimmt. Aber es gab immer wieder Passagen, in denen sie unausgesprochen China meinte. Zum Beispiel: „Natürlich müssen wir auch mit autoritären Regimen sprechen. Sprechen ist Kern von Diplomatie.“ Oder: „Wir müssen uns unseren wirtschaftlichen Abhängigkeiten intensiv stellen.“ Man dürfe nicht abhängig und erpressbar sein in seinen Wirtschafts- und Energiebeziehungen. Zweimal erwähnt sie die Belt-and-Road-Initiative, die die Verwundbarkeit Europas zeige. Es ist viel Analyse. Konkrete Handlungsvorschläge sollen in den nächsten Monaten erarbeitet werden. Vage deutet sie die Richtung an. Sie spricht von einer Stärkung der außenwirtschaftlichen Instrumente und einer kohärenten Außenpolitik. Das heißt: „Dinge zusammen denken. Es ist nicht so: Das ist die Handelspolitik. Hier ist die Infrastrukturpolitik. Und dann ist hinten noch die Außen- und Sicherheitspolitik. Nein, das gehört alles zusammen.“ Klar ist ihr Bekenntnis zur Nato, die ja auch gerade ein neues Strategiepapier erstellt und Ende Juni vorstellt.
Beim Londoner Gipfeltreffen im Dezember 2019 ging an Generalsekretär Jens Stoltenberg der Auftrag, ein solches zu entwickeln. Es soll das alte aus dem Jahre 2010 ablösen. Warum? „The world has fundamentally changed in the past decade“ heißt es in der Begründung. Und: “China´s rise fundamentally shifts the balance of power.” Im alten Papier von 2010 war in keinem Wort von China die Rede. Erstmals tauchte China im Kommuniqué des Londoner Gipfels vom 4. Dezember 2019 auf: „We recognise that China’s growing influence and international policies present both opportunities and challenges that we need to address together as an Alliance.“ Im Kommuniqué nach dem Brüsseler NATO-Gipfel im Juni 2021 war der Ton gegenüber China schon etwas schärfer: „China’s stated ambitions and assertive behaviour present systemic challenges to the rules-based international order and to areas relevant to Alliance security.” Im neuen Strategiepapier wird die Tonlage gegenüber China nicht milder sein. Die Nato bereitet sich offenbar Richtung Indo-Pazifik aus.
Info:
Der Strategische Kompass der EU ist hier nachzulesen: https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7371-2022-INIT/de/pdf Die Rede von Josep Borrell bei der Vorstellung hier: https://www.youtube.com/watch?v=S7E-q4esyX0
Die Rede von Annalena Baerbock vom 18. März gibt es hier: https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-nationale-sicherheitsstrategie/2517738
Das Kommuniqué des Nato-Gipfels vom 14. Juni 2021 kann man hier downloaden (die Punkte 55 und 56 betreffen China): https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_185000.htm