Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Zu gerne wäre ich dabei gewesen, als Annalena Baerbock zum ersten Mal das Foto ihres Parteifreundes Robert Habeck sah, wie er in Qatar leicht gebeugt dem Emir die Hand schüttelt. Habeck war dort auf Dienstreise und bat (oder bettelte) um Gas. Sieht so werteorientierte Außenpolitik aus? Nein, das ist Realpolitik. Wir brauchen Gas, Qatar hat es. Vom bösen Autokraten Putin wollen wir zu Recht keines mehr, nehmen wir es also vom guten Autokraten aus Qatar. Etwas mehr als 100 Tage ist die neue Regierung im Amt und trifft auf die harte Realität. Und die heißt: Unsere Interessen kollidieren mit unseren Werten. Dieser grundsätzliche und keineswegs neue Konflikt wird die Scholz-Regierung begleiten. Der nächste steht schon bevor. Es deutet vieles darauf hin, dass die USA bald auch Sanktionen gegen China verhängen wollen, weil die dortige Führung angeblich Waffen an Russland liefert. Machen wir da mit und gefährden dadurch unsere Wirtschaft, die zum Teil sehr stark von China abhängig ist, und setzen letztendlich unseren Wohlstand aufs Spiel? Aus Eigen-Interesse müssten wir also nein sagen. Oder folgen wir doch den USA, die als Großmachtrivale der Chinesen aber andere (strategische) Interessen haben, was uns Europäern offenbar schwerfällt zu akzeptieren, wie Josef Braml in seinem neuen empfehlenswerten Buch „Die transatlantische Illusion“ eindrucksvoll darlegt. Er plädiert deshalb für ein selbstbewussteres Europa, das endlich seine eigenen Interessen definiert und durchsetzt – wenn es sein muss, auch gegenüber den USA. Die Entscheidung über westliche Sanktionen gegen China könnte also zu einer Machtprobe zwischen Europa und den USA werden. Und zudem schweben darüber grundsätzliche Fragen: Welche autokratischen Regime wollen wir künftig sanktionieren? Gibt es gute und böse Autokraten? Sollen wir letztendlich nur noch mit dem demokratischen Westen Handel betreiben? Würde man ausschließlich in Demokratien Geschäfte machen, rechnet VW-Chef Herbert Diess vor, erreichte man nur sieben bis neun Prozent der Weltbevölkerung. Das sei – so Diess – keine Geschäftsgrundlage für einen weltweiten Autohersteller. Und erst recht kein Modell für die Exportnation Deutschland.
Wolfgang Hirn