GESELLSCHAFT I Chinas digitale Hexenjagd / Von Imke Vidal

Digitale Gewalt nimmt weltweit zu, so auch in China. Häufig trifft es Kinder und Jugendliche in Form von Mobbing durch Hasskommentare und Nachrichten, die ohne viel Aufwand anonym verschickt werden können. Unter Erwachsenen sind Frauen überproportional oft von digitaler Gewalt betroffen. Die häufigsten Formen dieser relativ neuen Form der Gewalt gegen Frauen sind dann Stalking, der Diebstahl privater Daten und Bilder sowie sexuelle Belästigung oder Gewaltandrohungen bis hin zu Morddrohungen. Gemäß eines Berichts der World Wide Web Foundation vom Juli 2020 gaben in Umfragen 52 Prozent der Frauen weltweit an, bereits digitale Gewalt erfahren zu haben. 82 Prozent der betroffenen Frauen glaubten, digitale Gewalt nehme zu. Folglich bezeichnet die World Wide Web Foundation heute digitale Gewalt gegen Frauen in Anspielung auf die Coivid-19 Pandemie als eine „Parallelpandemie“. Sicher ist: Der Hass gegen Frauen schlägt im Netz hohe Wellen. Nicht nur, aber eben auch in China. Egal, wo es auf der Welt dazu kommt, unterscheiden sich die Formen der digitalen Gewalt dabei kaum. Wohl aber der gesellschaftliche und erst recht der staatliche Umgang damit. Weltweit gilt es dabei zu verstehen, warum Frauen so häufig gemobbt und gestalkt werden, und warum die Attacken offenbar brutaler ausfallen, wenn sie sich gegen Frauen richten.

Es mag daran liegen, dass digitale Gewalt in jeglicher Form ein neueres Phänomen ist. Lange mangelte es an Wissen und Problembewusstsein, zumal die Anonymität im Internet das Geschehen verschleierte. Bis heute steht die Gesetzgebung der meisten Länder dem Problem ziemlich hilflos gegenüber. Täter können häufig nicht ermittelt werden. Internetgiganten wie Facebook weigern sich selbst bei schweren Tatvorwürfen, die Daten ihrer Nutzer herauszugeben. Aber könnte nicht gerade der chinesische Staat hier schneller und effizienter sein?

 Von Anonymität kann im chinesischen Internet nicht die Rede sein. Längst kann niemand mehr anonym surfen. Das 2017 in Kraft getretene Cyberschutzgesetz lässt dies nicht mehr zu. Und spätestens seit der Inbetriebnahme von Gesichtserkennungskameras und der Entwicklung des sogenannten Social Credit System  scheint niemand mehr vor Verfolgung sicher. Auch darum wird China immer wieder als Überwachungsstaat bezeichnet, werden die chinesischen Zustände gar mit George Orwells Horrorszenario aus dem Roman „1984“ verglichen. Müsste China aber dann nicht wenigstens ein Vorbild für die Bekämpfung digitaler Gewalt in jeglicher Form sein?

Tatsächliche versucht die chinesische Regierung diesen Eindruck zu erwecken. So berichten chinesische Medien von dem erfolgreichen Durchgreifen staatlicher Behörden gegen Cyberkriminalität in 62 000 Fällen, allein im Jahr 202[1]. Dabei ging es im Wesentlichen um Fälle von Internetbetrug oder illegalen Online-Spielen. Offenbar sind die Behörden in der Lage, bei dieser Art Vergehen systematisch einzugreifen. Das gleiche aber gilt nicht für den Umgang mit digitaler Gewalt gegen Frauen. In den chinesischsprachigen Medien wird über das Phänomen so gut wie gar nicht berichtet. Dabei gibt es durchaus gut dokumentierte Einzelfälle, in denen sich Frauen genau gegen diese neue Gewalt wehren. Die Erlebnisse der jungen Feministin Xiao Meili wurden vor einiger Zeit sogar als „Xiao Meili Vorfall“ im Netz bekannt.

Worum es in Xiaos Fall ging, lässt sich nur über Umwege nachvollziehen: Die junge Frau hatte während eines Restaurantbesuchs eine Gruppe Männer am Nebentisch gebeten, das Rauchen einzustellen, weil sie selbst, deren Vater an Lungenkrebs erkrankt war, Angst vor den Folgen des Passivrauchens hatte. Zunächst drückten die Männer die Zigaretten aus, so berichtete Xiao Meili später in einem Artikel. Dann aber zündeten sie erneut Zigaretten an, und Xiao wiederholte ihre Bitte. Nun schlug die Stimmung um, es wurde aggressiv und die junge Feministin zückte geistesgegenwärtig ihr Handy und begann zu filmen. Später zeigte ihr Video, wie die Männer sie und ihre Freundinnen mit heißem Öl bespritzen – der Vorfall ereignete sich in einem Hotpot-Restaurant. Bis hierher handelte es sich um einen Angriff, der mit Online-Mobbing nichts zu tun hat. Was sich jedoch schon an dieser Stelle wie ein Albtraum anhört, sollte in der virtuellen Welt erst richtig ausarten.

Die junge Aktivistin veröffentlichte zunächst das Video und später auch ihren Bericht im Internet. Schnell sorgte sie damit für Aufsehen. Lokale Medien kontaktierten sie und baten um Interviews. Auch die Polizei zeigte sich hilfsbereit. Man brauche junge Frauen wie sie, die sich in China für die Rechte von Frauen einsetzten, sagte ihr eine Polizistin. Die Polizei erkundigte sich nach dem Vorfall sogar telefonisch nach Xiaos Wohlergehen. Nichts deutete darauf hin, wie sich die Situation wenig später drehen würde.

Nach ersten unterstützenden Kommentaren zum „Xiao Meili Vorfall“ gab es bald auch Kritik an der jungen Frau. Und diese Kritik wurde schnell persönlich, richtete sich gegen Xiao als Frau und ihre Rolle als Feministin. Nicht nur Xiao, auch ihre feministischen Mitstreiterinnen bekamen plötzlich Hassnachrichten. Bald darauf wurden Xiaos Weibo-Konto und ein weiteres Social-Media-Konto, welches sie betrieb, dauerhaft stillgelegt. Xiaos Stimme verschwand damit quasi über Nacht aus dem chinesischen Netz, nicht aber die Kommentare der Internetgemeinschaft. Die junge Feministin wurde online beschimpft und beschuldigt, eine Marionette ausländischer Mächte zu sein. In einem solchen Video sitzt ein junger Chinese mit ernster Miene vor einem spärlich bestückten Bücherregal und erklärt, was angeblich die CIA mit dem Vorfall zu tun habe. An anderer Stelle wird Xiao vorgeworfen, Handlanger von Falun Gong zu sein oder auf Seiten Hong Kongs gegen China zu agieren. Manche Kommentatoren wünschten Xiao und ihren Freundinnen den Tod. Andere, dass sie vergewaltigt werden sollten. Slut shame würde man es auf Englisch bezeichnen, was Xiao und ihren Freundinnen im Internet passierte. Für die Täter hatte das keine Folgen.

 Dabei war es gar nicht leicht zu verstehen, warum die Stimmung online derart umschlug. Was eigentlich der Vorwurf war, den die sogenannten Internet-Trolls Xiao machten. Sie hatte doch nur gebeten, auf ihre Angst vor den Folgen des Passivrauchens Rücksicht zu nehmen.

Warum die Bitte, nicht zu rauchen, als Provokation empfunden wurde, lässt sich wohl nur mit dem Geschlechterverhältnis erklären. Es war offenbar schon demütigend, wenn Männer der Bitte einer Frau nachkommen. Und so sahen es wohl auch die Beobachter im Internet. Anders lassen sich die frauenfeindlichen Beschimpfungen und die zügige Ausdehnung der Hasskommentare auf die Gruppe der Feministinnen um Xiao kaum erklären. Der Feminismus scheint vielen immer noch ein Dorn im Auge zu sein. Und dann ist da noch die Anschuldigung, der ganze Vorfall sei von ausländischen Mächten geplant, Xiao arbeite mit der CIA oder Falun Gong zusammen. Das dient offenbar nur dazu, Hass zu säen, egal, ob es sich beweisen lässt oder nicht. Es zählt allein die Behauptung – wie so oft im Netz. Dabei paaren sich gerne Nationalismus und Hass gegen Frauen. Offen bleibt die Frage, warum in Folge dieses Vorfalls die Konten von Xiao Meili gesperrt wurden und nicht etwa die ihrer Hater. Und warum der Staat solchen Hass im Netzt zulässt, während man sonst mit der Zensur im Internet nicht zimperlich ist.

Info:

Dass Xiaos Erfahrungen nicht bloß einen Einzelfall darstellen, darauf versuchen andere chinesische Feministinnen inzwischen aufmerksam zu machen. So errichtete eine Gruppe Frauen das „Internet Violence Museum“, indem sie Hasskommentare gegen Frauen zusammentrugen und diese im Netz veröffentlichten. Künstlerinnen der Gruppe erstellten Transparente mit den Hass-Kommentaren und stellten sie unter freiem Himmel auf. Das Video ist auf Twitter zu sehen (https://twitter.com/FeministChina/status/1391335559201689603?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1391335559201689603%7Ctwgr%5E%7Ctwcon%5Es1_&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.theguardian.com%2Fworld%2F2021%2Fmay%2F13%2Fchinas-feminists-protest-against-wave-of-online-abuse-with-internet-violence-museum)

Die über Tausend Plakate sollen die digitale Gewalt sichtbar machen, denen chinesische Frauen im Netz täglich ausgesetzt sind. 

https://chinadigitaltimes.net/chinese/664827.html (auf Chinesisch)

https://chinadigitaltimes.net/space/Xiao_Meili (auf Englisch)

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