CHINESISCHER ALLTAG I Wie man aus der Ferne Leben rettet / Von Imke Vidal

Das Jahr 2021 hat die Welt auf die Probe gestellt. Nicht nur die Pandemie beherrschte allerorts den Alltag. Zahlreiche Naturkatastrophen und Unwetter erinnerten fast überall daran, dass die Menschen in einer globalen Krise stecken. Auch China, Ausgangsort der Pandemie, blieb von Unwettern nicht verschont. Und wer in China solche Katastrophen – seien es Pandemien oder Naturgewalten – länger verfolgt, weiß: Die Solidarität in der Bevölkerung ist in aller Regel stark. Während des Erdbebens in Sichuan im Jahre 2008 konnte man in Peking an jeder Straßenecke Blut spenden. Freiwillige aus dem ganzen Land reisten damals in die Heimat der Pandas, um vor Ort mit anzupacken. Aber auch wer in den heutigen Krisen nicht vor Ort ist, muss nicht untätig bleiben. Und während die sozialen Medien häufig unter Beschuss stehen, weil sie in China stark zensiert und außerhalb Chinas ein quasi rechtsfreier Raum sind, soll es an dieser Stelle darum gehen, was soziale Medien in Krisenzeiten auch leisten können.

Im Oktober 2021 kam es in der nord-chinesischen Provinz Shanxi zu Hochwassern, von denen laut Medienberichten 1,76 Millionen Menschen betroffen waren. Mindestens 15 Menschen kamen dabei ums Leben, rund 120 000 mussten evakuiert werden. Chinesische Medien berichteten tagelang über das Unwetter, das die Hochwasser auslöste. Die 20jährige Qi Yifei sah im Oktober die Bilder und las die Katastrophenberichte über Weibo. Sie stammt selbst aus Shanxi, studierte aber – zu dem Zeitpunkt im dritten Jahr – an der Jiaotong Universität in Xi’an im benachbarten Shaanxi. Immer in Sorge um die eigene Familie verfolgte sie rund um die Uhr die Weibo-Meldungen und wurde dabei immer unruhiger. Irgendwann hielt sie die eigene Untätigkeit nicht mehr aus. Spontan schrieb sie auf Weibo: „Wollen wir nicht ein Tencent Info-Dokument zur Unterstützung der Rettungsarbeiten erstellen?“ Ein ähnliches Dokument hatte schon zwei Monate zuvor während der Überschwemmungen in Henan gute Dienste geleistet. Erstellt hatte es ein Student aus Shanghai. Daran dachte Qi Yifei, als sie am 6. Oktober um 22.37 Uhr ihre Weibo-Nachricht abschickte. Acht Minuten später war eine erste Version erstellt und 20 Minuten später stellte Qi Yifei den Link mit dem Titel „Shanxi Fluthilfe Dokument“ online. Jeder sollte an dem Dokument arbeiten können und damit Informationen über die Lage vor Ort zusammentragen. Wo befinden sich Rettungskräfte? Welche Materialien werden gebraucht? Zunächst teilte Qi Yifei das Dokument nur im eigenen Freundeskreis auf Weibo und WeChat. Chinesischen Medien gegenüber sagte sie später, sie habe einfach helfen wollen. Dass ihre Datei von Internetnutzern und Rettungsorganisationen aber derart schnell verbreitet würde, hatte sie sich nicht vorstellen können. Durch die Verbreitung in den sozialen Medien erreichte der Link mit dem Formular schließlich auch den Studenten Li Ziyang in den USA. Auch er erinnerte sich sofort an Henan. Er selbst hatte sich damals über das Online-Formular an der Organisation der Rettungsarbeiten beteiligt. Sofort kontaktierte er Qi Yifei in Xi’an. In kürzester Zeit konnten sie zehn Personen zur Mitarbeit an dem Dokument mobilisieren. Gemeinsam kümmerten sie sich um das Sammeln von Informationen, die Einarbeitung, Verlinkung und ständige Aktualisierung der Daten. Später teilte sie die Arbeit in Schichten auf, damit das Dokument jederzeit aktuell blieb. Innerhalb weniger Tage hatten Qi und Li ein Team aus 300 Personen aufgebaut. Letztlich wurde das Dokument von der Internetgemeinschaft mehr als 3,6 Millionen Mal aufgerufen. Angefangen bei der Pandemie in Wuhan 2020 über die Flutkatastrophe in Henan im Juli 2021 bis hin zur Flut in Shanxi im Oktober 2021 gab es jedes Mal solche Online-Rettungsdateien. Überall arbeiteten staatliche und nicht-staatliche Rettungskräfte mit der Bevölkerung Hand in Hand, während Internetnutzer zur Verbreitung von Informationen beitrugen, um die Rettungsarbeiten vor Ort aus der Ferne zu unterstützen.

Was einfach aussieht, erfordert doch einige Courage. Nicht nur ist diese Form der Hilfe sehr zeitaufwändig. Echte Verantwortung lastet auf den Schultern der jungen Leute, die wie Qi Yifei die Initiative ergreifen. In einem Interview berichtet sie über das Wechselbad der Gefühle, das sie im Laufe ihrer Arbeit an dem Rettungsdokument durchgemacht hat. Da war zunächst die Anspannung, das Bedürfnis etwas tun zu wollen und dann die Freude darüber, dass ihre Initiative im Internet gut aufgenommen wurde. Aber Qi Yifei berichtet auch von dem physischen und psychischen Stress, den ihr Engagement mit sich brachte. Wenig Schlaf, Essen immer nur nebenbei, Stunden über Stunden vor dem Computer. Ständig beobachtete die 20-Jährige ihr Handy. Eine verpasste Nachricht, eine Unaufmerksamkeit, wie leicht könnte ein solcher Patzer ein Menschenleben kosten. Es braucht eben die Solidarität vieler in den sozialen Medien, um die Arbeit, aber auch die Last der Verantwortung zu teilen. Qi Yifei und Li Ziyang ist das gelungen.

Info:

Über die Geschichte von Qi Yifei findet man auf Chinesisch ausführliche Berichte, zum Beispiel hier:  https://news.ifeng.com/c/8ADrBkvf1eb; Ein Video gibt es auf Bilibili, hier: https://www.bilibili.com/video/BV13L4y1B758/ (Ebenfalls auf Chinesisch, aber mit Bildern über die Flutkatastrophe sowie von Qi Yifei und dem Dokument)

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