CHINESISCHER ALLTAG I Zwischen allen Fronten: Über die Schwierigkeit, eine Dorfschule zu leiten / Von Imke Vidal

Schüler in China haben es bekanntlich nicht leicht. Schuldirektoren offenbar auch nicht. Während über den Leistungsdruck, dem Kinder an chinesischen Schulen ausgesetzt sind, häufig berichtet wird, weiß man wenig über die Rolle des Leitungspersonals an Chinas strengen Paukeinrichtungen. Dabei kann man sich leicht denken, dass in einem leistungsorientierten Schulsystem wie dem chinesischen die Rolle des Schulleiters konfliktträchtig ist. Besonders auf dem Land, wo die Schule oft die wichtigste staatliche Einrichtung bleibt, steht der Schulleiter bis heute im Mittelpunkt – wie sehr, das zeigt ein am 07. Dezember in der Wochenzeitung Nan Fang Zhou Mo veröffentlichtes Experten-Interview über die prekäre Rolle ländlicher Schuldirektoren in China. Darin schildern Prof. Lili Liu (China Normal University) und ihr Doktorand Lu Chao (Eastern University) mit welchen Problemen die Direktoren an Chinas Dorfschulen alltäglich konfrontiert werden. Der Druck ist offenbar enorm. Einerseits lastet auf den Schultern der Schulleitungen das Gewicht des Staates, dem gegenüber sie in ewiger Bringschuld stehen. Andererseits sind sie dem ganzen Dorf verpflichtet, denn die Qualität der von ihnen geleiteten Schulen entscheidet über die Zukunftschancen der jungen Dorfbewohner. Schnell geraten Schulleiter dabei zwischen alle Fronten. Sie haben zwar kaum Entscheidungsbefugnisse, tragen aber die Verantwortung für ihre Schulen. Sie müssen nicht zuletzt die umfangreichen Vorgaben der Zentral- und Provinzregierungen erfüllen und werden dabei zwischen den Mühlen der Verwaltung zerrieben. Es fehle ihnen nicht nur an Autorität, sondern auch an Unabhängigkeit, so berichten Liu und Lu, die kürzlich eine Forschungsarbeit über 25 Dorfschulen und ihr Leitungspersonal vorlegt haben. Liu und Lu betonen, dass ländliche Schuldirektoren häufig auf die Unterstützung der Familien angewiesen sind, deren Kinder ihre Schule besuchen. Da sind Konflikte vorprogrammiert. Schon das kleinste Fehlverhalten kann im Dorf für Furore sorgen. Manche Direktoren trauen sich nicht mehr, im Dorflokal essen zu gehen. Jeder kennt sie dort. Gibt es Probleme, muss ein Schuldirektor damit rechnen, dass sich sein Abendessen bis weit nach Mitternacht hinzieht. Die Nan Fang Zhou Mo erwähnt einen Schuldirektor in Henan, der in diesem November, in Tränen aufgelöst, mit Journalisten redete. 30 Schüler seiner Dorfschule in Henan hatten sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen, weil sich der Caterer, der die Schulküche belieferte, nicht an die Hygienevorschriften gehalten hatte. Zwar wurde der Leiter des Cateringunternehmens festgenommen, doch den Schuldirektor traf im öffentlichen Gerede trotzdem die Schuld. Die Tränen dieses Schuldirektors sind für Liu und Lu symbolisch. Sie ließen sich als Ventil für einen lange aufgestauten Frust interpretieren. Beide Forscher plädieren dafür, die Schattenseiten der im Prinzip so erfolgreichen Landschulen Chinas zu beleuchten. Tatsächlich sind es gerade diese Schulen, die der jungen Landbevölkerung den sozialen Aufstieg ermöglichen. Hier entscheidet der Erfolg nicht nur darüber, ob man den langen Weg zur Universität einschlägt, sondern auch darüber, ob man die Chance erhält, in die Stadt zu ziehen. Es geht also um mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen. Und umso genauer, so Liu und Lu, müsse das Land seinen verzweifelten Schuldirektoren zuhören.

Info:

Das Interview auf Chinesisch gibt es hier: https://www.infzm.com/contents/219505

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