CHINAHIRN liest…

…China schreibt anders von Lothar Ledderose. Ist die chinesische Schrift „das komplizierteste System von Formen, welches die Menschheit geschaffen hat“? In „China Schreibt Anders“, wagt Lothar Ledderose (Seniorprofessor für die Kunstgeschichte Ostasiens) genau diese kühne Behauptung und schließt gleich eine zweite an: Diese chinesische Schrift sei das „Alleinstellungsmerkmal der chinesischen Kultur“. Davon will uns der Autor in dem schmalen Band überzeugen. Ledderose fasst zunächst die jahrtausendealte Geschichte der chinesischen Schriftzeichen zusammen und erläutert den kulturell stark prägenden Einfluss der logographischen Schrift in China. Er beschreibt, wie wichtig das komplexe Schriftzeichensystem für die Einheit Chinas war und verdeutlicht, wie stark die Schrift das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb des Riesenreichs China bis heute stärkt, ja, möglicherweise überhaupt erst geschaffen hat. In der ersten Hälfte des Buches steht der Buddhismus in China im Mittelpunkt. Anhand detaillierter Beispiele argumentiert Ledderose, dass die ursprünglich aus Indien kommende Lehre in China nicht nur übernommen, sondern stark verändert wurde, wobei der chinesischen Schrift in diesem Transformationsprozess eine bedeutende Rolle zukam. Während buddhistische Sutren in Indien eher mündlich als schriftlich weitergegeben wurden, und – wo in Sanskrit festgehalten – dies auf vergänglichen Materialien geschah, wurde in China die buddhistische Lehre im wahrsten Sinne des Wortes in Stein gemeißelt. Dabei – und hier tritt die Besonderheit der chinesischen Schrift hervor – wird anders als in Indien auch die Schrift selbst zum Heiligtum. So findet man in China das Schriftzeichen für Buddha in Felswände gemeißelt, die damit zum Ort spiritueller Handlungen wurden. Das Schriftzeichen ersetzte auch Heiligenstatuen und Reliquien, wie Knochen des Buddhas, an denen es in China mangelte. In seiner steinernen Form hoffte man, die Lehre in alle Ewigkeit weitergeben zu können. Die Felswände mit gemeißelten Sutren oder Buddha-Namen sollten selbst den Untergang der Menschheit überstehen. In der zweiten Hälfte des Buches wird dann verdeutlicht, wie sich die etwas unpraktisch anmutende chinesische Schrift über die Jahrtausende durchsetzen konnte und inwiefern dies zu einer gemeinsamen chinesischen Identität beitragen konnte, die in einem Land von der Größe und kulturellen Vielfalt Chinas nie eine Selbstverständlichkeit war. Der Autor vergleicht dabei das zumeist geeinte China mit dem Römischen Reich. Ein Vergleich, der auf den ersten Blick gewagt erscheint, sich aber in der Argumentation des Buches gut erschließt. Hätte das Römische Reich überdauert, so wäre heute aus Sicht Ledderoses Latein die dominierende Sprache in Europa. Diese gemeinsame Sprache (selbst wenn sie neben anderen Sprachen existiert hätte) wäre der rote Faden der Europäischen Geschichte geworden und gleichermaßen unsere ununterbrochene Verbindung zur eigenen Vergangenheit. Ebenso verhält es sich für den Autor heute in China. Die chinesische Schrift ist für ihn der rote Faden der chinesischen Kultur, allen politischen Umwälzungen zum Trotz. Die Schriften von vor tausend oder zweitausend Jahren bleiben der Gesellschaft des modernen China zugänglich. Über eine Schriftrolle mit Briefen des Wang Xizhi (303-361) samt den jeweils in verschiedenen Jahrhunderten hinzugefügten Kolophonen und Namenssiegeln der Sammler dieser Schriften schreibt Ledderose: „Hier erfahren wir, was historische Persönlichkeiten in verschiedenen Epochen über das Werk des Meisters zu sagen hatten, und in ihren Handschriften treten sie uns selbst gegenüber. Diese sind ohne Weiteres lesbar, und ihre ästhetische Qualität kann auch heute noch beurteilt werden.“ An solchen Stellen mutet der Autor dem Leser einiges zu. Denn inwiefern uns diese Persönlichkeiten durch ihre Handschrift selbst gegenübertreten, ist auf Anhieb nicht zu verstehen. Das chinesische Verständnis von Ästhetik in der Kaligraphie, oder eben der Handschrift, ist ohne eigene Kenntnisse der chinesischen Sprache und Schrift eigentlich kaum zu begreifen. Und selbst für den der chinesischen Schrift Mächtigen nicht immer leicht nachvollziehbar.  Hier liegt zugleich die Stärke wie auch die Schwäche des Buches. Einerseits wagt Ledderose den bravourösen Versuch, die chinesische Schrift für Außenstehende umfassend begreifbar zu machen, nicht nur in ihrem Wesen, sondern auch in Ihrer Wirkungsweise und Bedeutung. Andererseits bleibt die Frage offen, ob der Autor sein Fachgebiet wirklich einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen kann, wie es Ziel der Heidelberger Akademischen Bibliothek ist.

Die Lektüre dieses Buches ist jedoch jedem Interessierten unbedingt zu empfehlen. Man muss dem Autor nicht in allen Einschätzungen zustimmen und kann dennoch von vielen gedanklichen Anregungen profitieren, die dazu einladen, über die Bedeutung von Schrift, nicht nur in China, nachzudenken. „Die vier Zeichen des Titels der chinesischen Volkszeitung (Renmin ribao) hingegen sind in der Handschrift von Mao Zedong geschrieben“, erinnert uns Ledderose an die Synthese von Handschrift und Persönlichkeit in China. Und wir begreifen schnell: Trotz allem Individualismus der westlichen Literatur hat es keine Handschrift je in den Titel einer Zeitung geschafft.

Info:

Lothar Ledderose: China Schreibt Anders, Alfred Kröner Verlag, 118 Seiten, 19,90 Euro.

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