CHINESISCHER ALLTAG I Ein Wanderarbeiter als Philosoph, von Imke Vidal

Tencents Nachrichtendienst veröffentlichte am 18. November auf Weixin (dem chinesischen Pendant zu WhatsApp) einen überraschenden Beitrag über einen Fabrikarbeiter, in dem dieser nach einer kurzen Einführung vor allem selbst zu Wort kommt. Der 31-jährige Chen Zhi berichtet darin über seinen Alltag als Arbeiter in verschiedenen Fabriken – und darüber, wie er seine Liebe zur Philosophie entdeckte. Chen Zhi gehört zur Gruppe der Wanderarbeiter. Auf dem Land geboren, stammt er aus einer einfachen Familie, die ursprünglich Bauern waren. Wie viele junge Männer und Frauen verließ er die Schule und mit ihr sein Heimatdorf auf der Suche nach Arbeit in der Stadt. Es sind Wanderarbeiter wie Chen, die man in Chinas Städten auf den Baustellen arbeiten sieht, oder die in den Fabriken westlicher Firmen am Fließband arbeiten. Ihr Alltag ist bekanntermaßen hart. Zumeist verrichten sie körperliche Arbeiten bei geringem Verdienst. „Kaum genug um satt zu werden“, heißt es in dem Artikel. Und so berichtet auch Chen von 11-bis 12-Stunden-Schichten, von der Langeweile bei der Arbeit, die er beinah durchgehend im Stehen verrichtet. Er repariert Maschinen bei einer Firma, die Bildschirme für Handys produziert. Wer hier wenigstens einen freien Tag pro Woche haben will, so berichtet Chen, muss sich diesen Tag als Urlaub nehmen, ansonsten wird durchgearbeitet. Viele verzichten auf solchen „Urlaub“ und machen Überstunden für ein etwas besseres Auskommen. Chen aber nimmt sich seinen freien Tag pro Woche. Nicht um sich „auszuruhen“, sondern um John Richardsons Buch „Heidegger“ aus dem Englischen ins Chinesische zu übersetzen. „Ich nehme mir Urlaub mit der Begründung, ich sei krank oder hätte etwas zu tun“, sagt Chen auf Weixin, „ich sage niemandem, dass ich philosophische Bücher übersetze.“ Und so verbringt er seine knappe Freizeit in fensterlosen Kellerzimmern und in Bibliotheken mit dem Lesen und Übersetzen westlicher philosophischer Schriften. Seine Arbeit ist für ihn längst zur Nebensache geworden. Die Philosophie zum Lebensinhalt. Bis dahin war es ein langer Weg. Als „Musterschüler“ in seinem Dorf hatte es Chen zwar an die Universität geschafft. Dort interessierte er sich aber für Hegel und Kant, nicht aber für das, was der Lehrplan vorschrieb. Er verbrachte schon damals Stunden in der Bibliothek und las, lernte aber nicht für die Prüfungen. Als man ihm seitens der Uni riet, das Studium abzubrechen, willigte Chen spontan ein. Wohl wissend, dass er diese Entscheidung noch bereuen würde. So wurde Chen zum Wanderarbeiter, der zwischen schlechtem Gewissen und Selbstzweifeln hin- und hergerissen bald an den Rand der Verzweiflung geriet. Die Monotonie der Fabrikarbeit ließ ihn die ganze Leere seiner vermeintlich gescheiterten Existenz spüren. Aber letztlich war es womöglich eben diese Leere, die ihn veranlasste, sich erneut mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Seine wechselnden Arbeitsplätze suchte er alsbald nach der Nähe zu Bibliotheken aus. Er las nun auch auf Englisch. Wann immer er Verständnisprobleme hatte, schlug er Wörter nach. Erst über diesen Umweg entdeckte er das Übersetzen als Schlüssel zum Verständnis.  Im August dieses Jahres stellte Chen Zhi seine erste vollständige Übersetzung fertig: Richard Polts „Heidegger – An Introduction“, ein 328-Seiten-Werk. 

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