WIRTSCHAFT I 1075 statt 996 – oder doch 965?

Seltsame Zahlenkolonnen wandern durch die chinesische Diskussion. Erst machte die Kombination 996 die Runde, nun ist plötzlich 1075 die neue Zahl, auf die viele schielen. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich ein wichtiges und ernsthaftes gesellschaftliches Problem: Wieviel sollen/wollen junge Chinesen arbeiten? Oder philosophisch überhöht: Leben sie um zu arbeiten – oder arbeiten sie um zu leben? Seit Monaten werden diese Fragen diskutiert – privat und im öffentlichen Raum. Es geht vor allem um die Millionen junger Chinesen, die in den großen Tech-Konzernen des Landes arbeiten. Für sie galt lange die ungeschriebene 996-Regel – von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends arbeiten an sechs Tagen die Woche. Arbeitgeber wie Jack Ma (Alibaba) oder Richard Liu (JD.com) priesen das ausbeuterische Modell. Ma sprach gar von einem „großen Segen“ für seine Mitarbeiter, solange arbeiten zu dürfen. Nun ist Jack Ma aus anderen Gründen in Ungnade gefallen, und auch die 996-Regel kommt zunehmend unter Beschuss. Die jungen Leute – meist der Generation Z (nach 1995 geboren) zuzuordnen – rebellieren. Ein Beispiel mitten aus dem Arbeitsleben: Auf Weibo kursierten mehrere Videos eines Berufsanfängers namens Xiao Jiang beim Logistikunternehmen STO Express. Er wehrte sich offenbar noch während der Probezeit gegen die Überstunden. In einem Video hört man die Standpauke eines Managers: „Ihr seid erst 22, richtig? Macht Euch in dieser Zeit besser keine Gedanken über die Liebe. In den ersten fünf Jahren nach der Graduierung verliebt ihr euch einfach nicht, ok?“ Offenbar will er damit sagen, dass die Lebenszeit von 22jährigen in Überstunden besser angelegt sei. Xiao Jiang berichtet weiter er habe selbst dann nicht um 18 Uhr gehen dürfen, wenn die Arbeit für den Tag erledigt war. Darum hatte er offenbar um Vermittlung durch ein Schiedsgericht gebeten. In einem weiteren Video sagte ihm seine Vorgesetzte, wenn er ein Schiedsgericht bemühen wolle, würde die Firma ihn umgehend kündigen. Das tat sie dann doch, weil er „nicht die richtige Arbeitsmoral“ mitbringe. Solche Aufmüpfigkeiten nehmen zu und werden dabei zumindest verbal von den Behörden unterstützt. Ende August meldeten das Arbeitsministerium und der Oberste Gerichtshof, dass die 996-Regel illegal sei. Die Arbeitsgesetze sähen acht Stunden am Tag vor. Dieses Statement passt in die Xi-Jinping-Strategie des „gemeinsamen Wohlstandes“, bei der auch das Wohl der arbeitenden Bevölkerung stärker berücksichtigt werden soll. Und wenn von oben etwas vorgegeben wird, beeilen sich erfahrungsgemäß die Konzerne, die Wünsche der politischen Führung umzusetzen. Den Anfang macht nun Bytedance, die Muttergesellschaft von Douyin und TikTok. Sie führte zum 1. November die 1075-Regel ein. Von 10 Uhr morgens bis sieben Uhr abends an fünf Tagen die Woche. Ob diese Regel nun zur Regel wird, ist noch nicht klar. Es werden offenbar von den Tech-Unternehmen verschiedene Modelle ausprobiert. Beim Internetkonzern Tencent soll – so ein Gerücht –  das Modell 965 überlegt werden (von 9 Uhr bis 18 Uhr an fünf Tagen). Es ist auf jeden Fall Bewegung auf dem Arbeitsmarkt. Wir werden sicher noch weiteren Zahlenkolonnen begegnen.   Mitarbeit: Imke Vidal.

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