Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Politiker schauen gerne auf Meinungsumfragen und richten danach zumindest teilweise ihre Politik aus. Im Falle Chinas hören die Entscheidungsträger freilich nicht auf Volkes Stimme. Zwei aktuelle Studien, basierend auf Umfragen in Europa, zeigen die Diskrepanz zwischen Wählern und Gewählten. Die eine Studie gab die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Auftrag, die andere der European Council on Foreign Relations (ECFR). Die Ergebnisse kann man so zusammenfassen: Die Mehrheit der Europäer will nicht mit den USA in einen neuen Kalten Krieg gegen China ziehen. Ich zitiere aus der ECFR-Studie, damit mir nicht eine falsche Interpretation unterstellt wird: “In today’s Europe, there is no dream of a return to a bipolar world in which the West would face off against China and its allies as it once did against the Soviet Union.” Die europäischen Staaten sollen sich – so der Wunsch der Mehrheit – in diesem Konflikt der beiden Weltmächte neutral verhalten. Auch der Wechsel von dem unberechenbaren Trump zum berechenbareren Biden hat an dieser Haltung wenig geändert. Das Misstrauen gegenüber den USA sitzt tief – bei den Wählern wohlgemerkt, nicht bei den Politikern, die sich hierzulande an transatlantischen. Treueschwüren geradezu überbieten. Die europäischen Bürger hingegen wollen vielmehr ein souveräneres Europa. Aber was machen die europäischen Staaten, was macht die EU? Sie ignorieren den Souverän. Sie predigen zwar Multilateralismus mit einer starken EU, praktizieren aber Bipolarität. Eine „geopolitische Kommission“ versprach Ursula von der Leyen bei ihrem Amtsantritt als EU-Kommissionspräsidentin, also einen starker Pol in einer multipolaren Welt. Da fällt mir nur der Vergleich mit dem Tiger ein, der als Bettvorleger endete. Dieser wird beim kommenden G7-Gipfel im Carbis Bay Hotel zu besichtigen sein, wo der US-Präsident den Schulterschluss gegen China fordern und sich Europa brav einreihen wird.

Wolfgang Hirn

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