GESELLSCHAFT I Delivery Men

Wang Lin ist im richtigen Leben ein ganz normaler Bürokrat in der Behörde der Stadt Beijing und dort für Arbeitsbeziehungen zuständig. Kürzlich hat er seinen warmen bequemen Bürostuhl verlassen, sich auf ein Motorrad geschwungen und sich einen Tag lang als Delivery Man verdungen. In 12 Stunden lieferte er gerade mal fünf Essen aus. Sein Verdienst: 41 Yuan – eine äußerst magere Bilanz. „I worked for such a long time but made so little money“, klagte er nachher.  Einmal kam er 20 Minuten zu spät zum Kunden – was im Beijinger Verkehrschaos eher die Regel als die Ausnahme ist. Als Strafe wurden ihm 60 Prozent seiner Liefergebühr abgezogen. Es ist ein Kampf zwischen den beiden Giganten Meituan und ele.me. Gelb gegen Blau – so die Jackenfarben der Fahrer. Das Geschäft boomt seit Jahren. In Pandemie-Zeiten gab es nochmals einen Schub.  Acht bis zehn Millionen Fahrer sollen jeden Tag unterwegs sein. Sie sind jung, ohne große Bildung. Viele sind Wanderarbeiter. 95 Prozent von ihnen sind nach Angaben des Beijing Yilian Labour Law Center mehr als acht Stunden im Einsatz. Der Job ist gefährlich (In Shanghai verunglückt alle zweieinhalb Tage ein Fahrer tödlich), die Bezahlung ist mies. Immer wieder kommt es zu Streiks. 57 waren es 2018, ein Jahr später immerhin noch 45, aber 2020 waren es nur noch drei. Der Rückgang der Streikbereitschaft ist allerdings nicht auf ein Entgegenkommen der Arbeitgeber zurückzuführen, sondern auf deren Einschüchterung: Wer streikt, fliegt raus. Trotzdem gibt es mutige Kämpfer wie zum Beispiel Chen Guojiang (31), besser bekannt unter dem Namen Mengzhu – eine (chinesische) Abkürzung für „Leader of the Delivery Riders Alliance“. Er startete vor zwei Jahren mit einem Online-Netzwerk, installierte Chat-Rooms für seine Kollegen, half mit Rat und Tat. Er war dabei, eine Art Gewerkschaft zu organisieren und zu installieren, weil ja die offizielle Gewerkschaft meist auf der Seite des Kapitals und der Kader ist. Das war dann den Behörden zu viel des Guten. Ende Februar wurde Chen verhaftet. Welche Perversion eines kommunistischen Landes: Wer sich für die Ausgebeuteten einsetzt, wird weggesperrt. Kürzlich forderte Staatspräsident Xi Jinping während einer seiner Inspektionsreisen in Guangxi „the protection of the legitimate interests of truck drivers, couriers and food delivery riders.“ Er hätte die Macht, dies zu ändern.

Info:

Das Video über den Tag des Wang Lin gibt es hier: https://www.youtube.com/watch?v=X-322QiAmHE

In diesem Beitrag berichtet ein Fahrer über seinen Alltag: https://spittooncollective.com/beijing-lights-23-i-gave-my-youth-to-this-city/

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