WIRTSCHAFT I Weihnachtsstadt Yiwu

Das ist einmalig auf dieser Welt: Rund 70 000 Shops drängeln sich auf über sechs Millionen Quadratmetern. Um eine solch gigantische Dimension zu begreifen, helfen oft nur Vergleiche. Wenn man in jedem Shop nur fünf Minuten verbringen würde, wäre man zwei Jahre lang unterwegs. Das versteht man. Ebenso den räumlichen Vergleich: 70 Fußballfelder umfasst der größte Markt der Welt. Hier kaufen Händler aus aller Welt Konsumartikel aller Art ein – von Haartrocknern über Unterhosen bis zu Weihnachtskugeln. Viele Waren, die im Kaufhof, bei WalMart oder Carrefour in den Regalen liegen, wurden hier geordert.

Und wo steht dieses Epizentrum der Globalisierung? In Yiwu, einer Stadt 130 Kilometer südlich von Shanghai. Mitten in der Provinz Zhejiang. Wie konnte eine Stadt, die Mitte der 80er Jahre gerade mal 73 000 Einwohner zählte, zu diesem Nabel der Konsumwelt werden? Dazu muss man eine kurze Zeitreise unternehmen, in die Zeit nach 1978, die Zeit der beginnenden Reformen. Man durfte experimentieren, man durfte Geld verdienen, man durfte sogar reich werden. Nur: Wie geht das in der tiefen Provinz, in Yiwu zum Beispiel? Die Frage stellte sich zu Beginn der 80er Jahre auch der damalige Parteisekretär von Yiwu, Xie Gaohua, auch – und fuhr, um Antworten auf diese Frage zu finden, rund 250 Kilometer nach Osten, nach Wenzhou. Diese Stadt hat in China einen legendären Ruf. Ihre Einwohner gelten als besonders geschäftstüchtig. In Wenzhou hat der Kommunismus den Kapitalismus nie besiegt. Hier überlebten viele Familienbetriebe, die einfache Konsumgüter produzierten. Xie Gaohua nahm sich Wenzhou zum Vorbild.

So entstanden in Yiwu nach und nach kleine Werkstätten, dann Fabriken, dann Handelsunternehmen. Wie ein Magnet zog ein Unternehmen ein anders an.

Heute ist das Yiwu International Trade Center das gigantischste Einkaufszentrum der Welt. Es ist in fünf Distrikte eingeteilt. Jeder ist auf eine bestimmte Warengruppe spezialisiert. Gehen wir zum Beispiel in den Distrikt 4: Accessoires. Auf dem ersten Stock gibt es nur Shops für Socken, auf dem zweiten dann Mützen, Hüte und Handschuhe, auf dem dritten Krawatten und Handtücher, auf dem vierten Gürtel und Unterwäsche.

Wer hier zum ersten Mal herkommt, ist verloren. Er braucht professionelle Orientierung.  Es wimmelt von Agenten, seriösen und halbseidenen. Zehntausende bieten ihre Dienste an, virtuell im Internet oder  leibhaftig in den Hotellobbys der Stadt. 

Viele Einkäufer haben sich inzwischen in Yiwu niedergelassen. Rund 14 000 Einkäufer aus über 100 Ländern leben hier permanent. Es gibt afghanische, afrikanische, russische, thailändische und türkische Ecken und Viertel in der Stadt – und arabische. Die Händler aus dem Nahen Osten stellen die größte Gruppe. Rund 4000 Einkäufer bilden die arabisch-nordafrikanische Community in Yiwu. Es gibt Moscheen, arabische Schulen, die Chouzhou Road mit arabischen Kaffeehäusern und Restaurants. Yiwu ist längst ein kosmopolitischer Ort. Hier sind Atheisten, Buddhisten, Christen, Moslems im Glauben an die Segnungen der Globalisierung vereint.

Es gibt inzwischen direkte Bahnverbindungen von Yiwu nach Teheran und von Yiwu nach Madrid. 16 Tage sind die Züge nach Madrid unterwegs, 14 Tage nach Teheran. Das ist kürzer und damit auch billiger als der Transport mit dem Schiff. Die beiden Städte Madrid und Teheran sind die Drehscheiben. Die eine für den Nahen Osten und Afrika, die andere für Europa.

Die Waren konnten auch in Corona-Zeiten Yiwu verlassen. Für die Menschen dagegen waren die Grenzen dicht. Viele permanent in Yiwu lebende Zwischenhändler hatten die Stadt zu Chinesisch Neujahr Ende Januar Richtung Heimat verlassen – und konnten danach nicht mehr zurück. Viele Einkäufer bekamen kein Visum. Das hat die Geschäfte dieses Jahr in Yiwu negativ beeinflusst.

Wird Yiwu nach Corona wieder zu alter Bedeutung zurückkehren? Die Anbieter von Waren sind optimistisch, die vielen ausländischen Zwischenhändler dagegen eher skeptisch, was ihren Job angeht. Denn ein Handelsgigant aus dem 80 Kilometer entfernten Hangzhou mischt zunehmend in Yiwu mit – Alibaba. Der E-Commerce-Händler will künftig zwischen den Einkäufern aus aller Welt und den Anbietern in Yiwu vermitteln. Man müsste dann nicht mehr nach Yiwu reisen, und man bräuchte auch keine Einkäufer mehr in Yiwu. Die Stadt würde viel von ihrem kosmopolitischen Charme verlieren.

Info:

Im Fernsehsender ARTE lief am 15. Dezember der Film des serbischen Filmemachers Mladen Kovacevic. über Yiwu. Bis zum 13. Januar ist er noch in der Mediathek von ARTE abrufbar: https://www.arte.tv/de/videos/083311-000-A/merry-christmas-china/

Begleitend dazu gibt es im ARTE Magazin einen guten Artikel des langjährigen China-Korrespondenten Finn Mayer-Kuckuk:  https://www.arte-magazin.de/jingle-bells-in-yiwu/

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