Harbin, im späten August. Ein älterer, grauhaariger Mann will in einen Bus der Stadt steigen. Der Busfahrer fragte ihn nach seinem Health Code auf seinem Handy. Hätte dieser grün gezeigt, wäre er losgefahren. Doch der Mann hatte nicht einmal ein Handy. Also bat ihn der Busfahrer auszusteigen, aber der Mann weigerte sich. Der Busfahrer alarmierte die Polizei. Die holte den Mann aus dem Bus – und fuhr ihn im Polizeiauto zu seinem Ziel.
Kein Einzelfall. Viele Senioren sind verloren. Sie kommen in der zunehmend digitalisierten chinesischen Welt nicht mehr zurecht. Sie stehen wartend am Straßenrand, weil kein Taxi hält, denn es ist bereits online von anderen bestellt worden. Sie wollen bar bezahlen, aber der Laden akzeptiert nur noch Alipay oder WeChatpay via Smartphone. Sie haben Probleme, einen Termin beim Arzt oder im Krankenhaus zu bekommen, weil man diese nur noch online erhält.
Rund 250 Millionen Chinesen sind über 60 Jahre alt. Aber nur 90 Millionen von ihnen sollen online sein. Und die, die im Internet unterwegs sind, nutzen dies nur um mit der Familie oder Freunden meist per WeChat zu kommunizieren, zu spielen oder Nachrichten zu schauen. Aber online Einkaufen, Bezahlen von Stromrechnungen, Ordern eines Taxis oder Vereinbaren eines Arzttermins – das ist nicht mehr ihre Welt. Sie fühlen sich abgehängt, manche Altersdepression wird durch diese digitale Kluft noch verstärkt. Auch ältere Wanderarbeiter, die viele Jahre in den Städten auf dem Bau geschuftet haben und nun lieber als Kurier arbeiten würden, können nicht wechseln, weil sie Internet-Analphabeten sind. Sie müssen weiterhin die schwere körperliche Arbeit auf Baustellen verrichten. Das Durchschnittsalter der Bauarbeiter in Beijing ist in den vergangenen zehn Jahren von 33 auf 43 gestiegen.
Es sah lange Zeit so aus, als hätten die Alten und Abgehängten keine Lobby. Beim diesjährigen Nationalen Volkskongress machte sich immerhin der berühmte Filmregisseur Jia Zhangke für die Senioren stark. Er forderte: „Helfen Sie den Senioren das digitale Leben zu genießen.“ Inzwischen hat auch die Zentralregierung das Problem erkannt. Der Staatsrat – vergleichbar unserem Kabinett – hat kürzlich eine Mitteilung an die Provinzregierungen gegeben, in der sie diese auffordert sich bis Ende 2022 der Probleme anzunehmen und sie zu lösen. Sie sollen sicherstellen, dass Dienstleistungen auch für die Bürger zur Verfügung stehen, die selten oder gar nicht online sind. Das ist freilich leichter gesagt als getan. Es gibt drei Möglichkeiten. Es sollen erstens gewisse Dienste, wie zum Beispiel die Bestellung von Taxis oder die Vereinbarung von Arztterminen nach wie vor auch noch per Telefon angeboten werden; zweitens Kurse für Senioren eingerichtet werden, in denen ihnen die Grundlagen der Online-Kommunikation erlernen und drittens seniorengerechte Produkte durch Unternehmen angeboten werden. Die Handyhersteller wie Huawei, Xiaomi und Oppo haben schon altersgerechte Produkte im Angebot. Bei der Suchmaschine Baidu müssen die Senioren nicht mehr tippen, sondern nur noch sprechen. Und der E-Commerce-Händler Alibaba hat eine übersichtlichere Senioren-App eingeführt. Schließlich will man ja auf diese alternde Konsumentenschar, die immer größer wird, nicht verzichten.