GESELLSCHAFT I Depressionen

Der Chemiestudent an der Dalian Universität schrieb eine letzte Nachricht auf Weibo, in der er sich über seinen Lehrer beklagte, der seine Arbeit niedermachte. „Ich bin hoffnungslos“. Kurze Zeit später fand man ihn tot im Labor. Kein Einzelfall. Depressionen sind unter Chinas Studenten weit verbreitet. Jeder Vierte soll an Symptomen dieser Krankheit leiden. Der Erfolgsausdruck für Studierende – und auch Schüler- ist enorm. Er kommt von den Lehrenden, aber auch von den Eltern, die fast alle Hoffnungen auf ihr einzelnes Kind setzen, das ja quasi ihre Altersversorgung ist.

Lange Zeit hat man dieses Problem ignoriert oder verdrängt. Historisch und kulturell sind psychische Krankheiten in China stigmatisiert. Sie gelten als Zeichen von Schwäche und Unfähigkeit. Erst in den vergangenen Jahren hat das Bewusstsein zugenommen. Und dieses Jahr hat es – so makaber es klingen mag – dank Corona nochmals einen Schub gegeben. „2020 has been a watershed year in China when it comes to national attention for depression”, schreibt Siyuan Meng in einem Beitrag für das Online-Magazin Radii. Suchbegriffe nach psychologischer Hilfe erreichten bei Baidu Anfang 2020 Rekordwerte. Auf Weibo gibt es heiße Diskussionen, wie man Depressionen erkennt und behandelt.  Der Weibo-Account „Depressionen“ hat über drei Millionen Follower, der WeChat-Account „Know Yourself“ knapp drei Millionen Follower. Junge Leute sind dank den sozialen Medien inzwischen besser über Depressionen informiert. 

Doch die Unkenntnis über Depressionen ist noch weit verbreitet. Selbst in der Metropole Shanghai – so ergab eine Umfrage – können gerade mal 40 Prozent Symptome von Depressionen identifizieren. In kleineren Städten und auf dem Land sieht es noch viel schlimmer aus. Aber selbst diejenigen, die Symptome an sich erkennen, gehen nur selten zum Arzt. Laut China Mental Health Survey sucht nur jeder zehnte Depressiv-Kranke einen Psychiater auf. Allerdings – und das ist ein weiteres Manko in China – gibt es auch nur 23 000 Psychiater im Lande. Das sind 1,7 pro 100 000 Einwohner. In den USA sind es 12.

Die Regierung regiert. Mitte September gab die National Health Commission die lange erwarteten „Guidelines for Prevention and Treatment of Depression” heraus. Darin werden Aufklärung und bessere Behandlung versprochen. Und es werden Risikogruppen – Teenager, Schwanger und Personen mit Stressjobs- massenhaft gescreent. Typisch Chinesisch! 

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