Immer weniger junge Leute studieren Sinologie, obwohl China ja immer wichtiger wird. Und viele von denen, die es studiert haben, befallen Zweifel und eine gewisse Erschöpfung. Ein Weckruf zur rechten Zeit – und hoffentlich der Beginn einer notwendigen Diskussion.
Mit der sich ausbreitenden Corona-Pandemie überkam mich zunehmend ein altbekanntes Gefühl, eines das nicht nur mir bekannt ist. Im Laufe der Jahre habe ich es oft mit Freunden und Kolleg*innen auf verschiedenen Stufen ihrer „Chinawissenschaften-Karriere” diskutiert, mit Master-Studierenden, Promovierenden, Post-Docs, Think-Tankern, Forschenden und Lehrenden, Expert*innen, die über China oder in China arbeiten. Ich nenne es manchmal “Chinawissenschafts-Erschöpfung”. Ein Gefühl oder ein Geisteszustand, der einen erschöpft, wenn man mit den Grenzen und Herausforderungen seiner Forschung konfrontiert wird. Etwas, das ziemlich toxisch und frustrierend sein kann, wenn man als Studierender mit China-Schwerpunkt kurz vor dem Abschluss steht oder wenn man seinen Lebensunterhalt mit der Forschung über Greater China verdient.
Aber worüber beklage ich mich? Sind wir nicht alle irgendwann einmal ausgebrannt, wenn es um unsere Karriere geht? Ist es nicht normal, dass die “Leidenschaft” für unser Fachgebiet an manchen Tagen größer scheint als an anderen? Und könnte man nicht argumentieren, dass diejenigen, die sich ihrer Forschungsthemen überdrüssig fühlen, vielleicht einfach das falsche Fach oder Thema gewählt haben?
Während ich diesen Argumentationen teilweise zustimme, glaube ich doch, dass die Erschöpfung vieler Chinawissenschaftler* tiefer liegt. Ich versuche zu erklären, warum: Die Mehrheit der jungen Wissenschaftler*innen, die sich mit China beschäftigen, beginnt mit einer Leidenschaft für das Land als intrinsische Motivation. Einige besuchten oder lebten in China und verliebten sich in die Natur und die warmherzigen Menschen des Landes. Einige lieben die chinesische Esskultur, die faszinierende Schrift der chinesischen Sprache oder die reiche Kulturgeschichte Chinas. Andere sind beeindruckt von der Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung und der Energie, die man in so vielen chinesischen Städten spürt. Und einige wollen verstehen, welche Rolle China in unserer internationalen Ordnung spielen wird und spielt.
Doch im Verlauf des Studiums wird der Weg holprig. Sicherlich brechen viele Studierende wegen der großen Herausforderung, die chinesische Sprache zu lernen, ihr Studium ab. Aber ich möchte behaupten, dass die wirklich engagierten Studierende durchhalten.
Wenn jedoch junge Chinawissenschaftler*innen kurz vor dem Abschluss ihres Studiums stehen oder sich in der Anfangsphase ihrer Karriere befinden, wird es zunehmend schwieriger. Zum ersten Mal sehen sich junge Wissenschaftler*innen mit Einschränkungen konfrontiert, wenn es um Feldforschung in China oder um Zugang zu Daten geht. Sie stehen vor dem Problem, zu welchen Themen man tatsächlich recherchieren kann, ohne die Qualität der Arbeit durch mangelnden Zugang zu Quellen oder, noch schlimmer, durch das Risiko, Interviewpartner oder Kollegen zu gefährden, einzuschränken.
Zudem werden sie zunehmend mit ethischen Problemen konfrontiert: Wie kann man Forschung über ein autoritäres Regime betreiben? Wann baut man Brücken und an welchem Punkt stärkt man Systeme, mit denen man nicht einverstanden ist? Bedeutet die Vermeidung von Forschung zu sensiblen Themen, dass man sich mit dem autoritären Regime mitschuldig macht und seine Forschung selbst zensiert? Und schließlich: Wie kann man seine Forschung von den eigenen politischen Ansichten trennen, und ist das überhaupt das Richtige, wenn es um grundlegende Werte geht? Hier kommt die Erschöpfung auf.
Der Merics-Report “China kennen, China können” warnte davor, dass die Zahl der Sinologie-Studierenden seit 2014 sinkt. Darüber hinaus stagniert die Zahl der Schüler*innen, die an Gymnasien Chinesisch lernen, bei etwa 5000 Lernenden in Deutschland, verglichen mit mehr als 38 000 in Frankreich. Meiner Meinung nach ist dieser Trend zum Teil auf eine frühe Erschöpfung bei der Beschäftigung mit China zurückzuführen ist.
Die Medienberichterstattung über China ist seit Jahren zunehmend polarisierend. Das China-Bild der heutigen Schüler*innen ist nicht in erster Linie durch Chinas Wirtschaftsboom und seine Rolle als aufstrebender Akteur im internationalen System geprägt, sondern durch die autoritäre Wende unter Xi Jinping, den Handelskrieg, die Situation in Xinjiang und Hongkong und den Ausbruch des COVID-19. Werden Studierende, die in diesem Zusammenhang über China lernen, die Motivation finden, sich einem herausfordernden Studium zu China zuzuwenden? Oder werden sie sich vom negativen Bild abschrecken lassen?
Wie sollten die Chinawissenschaften auf diese herausfordernde Situation reagieren? Ich glaube, dass Chinawissenschaftler*innen in einem ersten Schritt offener über diese Themen sprechen müssen. Über die Herausforderungen bei der Forschung über und in China. Über den unvermeidlichen Wertekonflikt. Über die Schwierigkeiten, sich selbst zu positionieren, insbesondere als Nachwuchswissenschaftler*in. Über die Erschöpfung, die manchmal aufkommt, und über psychologische Strategien, sie zu überwinden.
Zweitens müssen wir junge Chinawissenschaftler*innen besser darauf vorbereiten, sowohl die Praxis als auch ethische Fragen ihrer Forschung über das heutige China zu navigieren. Zu diesem Zweck sollten die Universitäts-Lehrpläne diesen Entwicklungen den nötigen Raum geben. Besonders für Masterstudierende und Promovierende wäre es hilfreich, Kurse über Feldforschung in China anzubieten, darüber, wie man Daten zu sensiblen Themen sammelt und wie man mit Kollegen und Quellen vor Ort zusammenarbeitet, während man sich in einem sensiblen Umfeld zurechtfindet.
Zudem sollte Forschungsethik in den Lehrplan integriert werden. Angesichts der sensiblen Natur der Forschung zu bestimmten Themen mit Chinabezug könnte sich ein solcher Kurs kritisch mit Fragen der Komplizenschaft, der Selbstzensur und möglichen Zusammenstößen des Verständnisses von akademischer Freiheit mit Kollegen*innen in China auseinandersetzen sowie diskutieren, wie man mit der Zweideutigkeit und dem Mangel an vollständiger Information umgeht, die beim Studium des heutigen China unvermeidlich sind. Dies könnte auch ein ausgezeichneter Punkt sein, um China-Studien mit anderen Regionalstudien zu verknüpfen, welche ähnliche Probleme mit der Forschung in sensiblen und eingeschränkten Umgebungen haben könnten. Während die hier diskutierten Probleme bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit China auftreten, so sind sie keinesfalls exklusiv für Chinawissenschaften. Ein besserer Austausch mit anderen Disziplinen würde nicht nur die Wahrnehmung Chinas als „schwarzer Schwan“ vermeiden, sondern auch eine breite Diskussion zu Forschungsethik bei der Beschäftigung und dem Austausch mit autoritären Systemen erlauben.
*Tatjana Romig studierte Politikwissenschaft und Sinologie in Heidelberg, Bochum und Shanghai. Derzeit arbeitet sie im Office of International Affairs an der National Taiwan University, Taipei. Sie ist Mitgründerin von Mapping China, einem Netzwerk junger Chinawissenschaftler*innen. Der Artikel erschien im englischsprachigen Original „China Studies Fatigue or Why We Need to Prepare Young China Scholars to Face Ethical Questions” auf www.mappingchina.org.