Ess-Kulturrevolution

Eine Revolution bahnt sich wieder mal in China an. Eine friedliche freilich. Und sie findet diesmal im Saale statt. Es ist eine Ess-Kulturrevolution. In vorrevolutionären Zeiten war es üblich, dass man sich zuhause oder im Restaurant um einen großen Tisch – ob rund oder viereckig – scharte und jeder mit seinen Essstäbchen die Happen von den diversen Speisen auf dem Tisch aufpickte und zum Munde führte. Es war auch üblich, dass Eltern den Kindern mit ihren Stäbchen das Essen in die Schale hievten, oder der Gastgeber besonders kostbare Speisen mit seinen Stäbchen den Gästen offerierte und gönnerhaft in deren Schälchen platzierte. Das Teilen der Speisen ist Teil der jahrtausendealten chinesischen Esskultur und die Stäbchen (die ersten wurden schon im 13. Jahrhundert vor Christus entdeckt) waren ein wichtiges Utensil dieser Kultur.

Doch dann kam Corona, dieser unscheinbare Virus, der sich überall festsetzt – auch auf Stäbchen. Jetzt galt plötzlich die Benutzung von einem Paar Kuaizi sowohl zum Aufpicken als auch zum Essen als unhygienisch und als eine Gefahr für die Gesundheit. Die Lösung hatten die Gesundheitsapostel auch gleich parat: Ein zweites Paar Stäbchen, auf Englisch serving chopsticks, oder auf Chinesisch gong kuai. Inzwischen gibt es im Musterland der Kampagnen nahezu überall die Aufforderungen, ein zweites Paar Stäbchen zu nutzen. In Hangzhou hat sich eine Serving Chopstick Alliance der Restaurantbesitzer gebildet. Wer ein zweites Paar nutzt, bekommt sogar Rabatt. In der Provinz Shaanxi ist die Benutzung der gong kuai sogar vorgeschrieben. Eine Umfrage unter 30 000 Bewohnern von Xiamen in der Provinz Fujian ergab, dass knapp 85 Prozent dafür seien. Doch wie bei jeder Revolution gibt es Widerstandsnester. Die Konterrevolutionäre wittern einen Angriff auf die chinesische Esskultur. Da hilft es auch nicht, dass Chinas größter Revolutionär – Mao Zhedong –  bei seinen Essgelagen angeblich stets ein zweites Paar Stäbchen benutzte.

Info: Wer sich ausführlicher über die Essstäbchen informieren will, dem sei folgendes Buch von Edward Wang empfohlen: Chopsticks – A Cultural and Culinary History, Cambridge University Press, 2015, 210 Seiten; es kostet bei Amazon in der gebundenen Version rund 27 Euro, elektronisch im Kindle-Format 15,75 Euro.

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