GESELLSCHAFT I „Ich fahre Pakete aus in Peking“

In China gibt es ungefähr 200 Millionen sogenannte Gig-Arbeiter. Dies sind moderne Tagelöhner, die von Job zu Job wechseln und von Stadt zu Stadt ziehen. Dabei darf man das Wort Tagelöhner nicht zu wörtlich nehmen, denn sie arbeiten schon mal mehrere Monate oder gar auch Jahre für denselben Arbeitgeber. Aber ihr Schicksal ist die permanente Job-Suche. Einer dieser Gig-Arbeiter ist Hu Anyan, 46 Jahre alt, aus der Provinz Guangdong stammend. Er sticht aus der Masse der – Marx würde sagen – industriellen Reservearmee Chinas hervor. Hu liest nämlich in seiner kargen Freizeit, und zwar die schweren Brocken wie zum Beispiel James Joyce. Oder auch Franz Kafka. Sein Faible für Literatur ließ ihn selbst zum Literaten werden. Zunächst schrieb er neben seiner Arbeit nur für Literaturblogs. Dort fiel er den beiden Journalisten Feng Junhua und Peng Jianbin auf, die ihm vorschlugen, doch ein Buch über seine Erfahrungen zu schreiben, nachdem er 2020 seinen Job als Kurierfahrer quittiert hatte.

Obwohl er von sich behauptet, dass er kein natürliches Talent zum Schreiben habe, folgte er dem Rat der beiden Journalisten und schrieb ein Buch. Und prompt wurde es ein Bestseller. Es stand beim Bewertungsportal Douban auf Platz Eins und wurde inzwischen in 15 Sprachen übersetzt, darunter jetzt auch dank dem Suhrkamp Verlag, in Deutsch. Damit wird auch deutschen Lesern der Blick in die unteren Schichten der chinesischen Gesellschaft ermöglicht. Dort hat sich seit seinem Abgang von der Schule Hu Anyan herumgetrieben. In 19 verschiedenen Jobs hat er sich verdingt. Er war Bedienung in einem Hotel, Aushilfe in einer Tankstelle, Bäcker, Graphikdesigner in einem Manga-Verlag und vieles mehr. Zwischendurch machte er sich als Modehändler selbständig, ehe er zuletzt als Kurierfahrer in Beijing arbeitete. Dieser Tätigkeit verdankt das Buch auch seinen Titel: „Ich fahre Pakete aus in Peking“. Über dieser Zeit berichtet er sehr ausführlich und in einer sehr verständlichen Sprache (von Monika Li bestens übersetzt). Das Buch erinnert mich an die Industriereportagen von Günter Wallraff –  mit dem großen Unterschied, dass sich Hu nirgendwo eingeschlichen hat, sondern diese Demütigungen der Arbeitswelt jahrelang ertragen musste, um schlicht zu überleben. Nur ein Beispiel: Als Kurierfahrer musste er 30 Yuan in der Stunde verdienen, um Essen und Wohnung zu finanzieren. Das machte 0,5 Yuan pro Minute. Ein 20minütiges Mittagessen kostete ihn also 10 Yuan, eine einminütige Pinkelpause ein Yuan. Deshalb trank er wenig, und das im heißen Beijing. Man wundert sich, was ein Mensch wie Hu alles ausgehalten hat. Am Schluss seines Buches reflektiert er seine Maloche und schreibt einen bemerkenswerten Satz: „Arbeit mit dem einzigen Ziel, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist ein jämmerliches Gefängnis.“ Dank seines Bucherfolges ist er aus diesem Gefängnis ausgebrochen. Er lebt jetzt in Freiheit: „Schreiben ist Teil meines Lebens, der Teil der Freiheit.“

Wer erfahren will, wie es in der untersten Etage der chinesischen Gesellschaft aussieht, sollte dieses Buch lesen und er wird sich wundern, welche Formen der Ausbeutung in einem sich kommunistisch nennenden Staat möglich sind. 

Info:

Hu Anyan: „Ich fahre Pakete aus in Peking“ (übersetzt von Monika Li), 295 Seiten, Suhrkamp Nova, 23 Euro.

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