WAN HUA ZHEN (萬花陣) I Keine Termine in China: Zu wenig Kanäle, zu einseitige Expertise / Von Liu Zhengrong*

Der Economist aus London übertreibt mal wieder: In der Ausgabe vom 24. Oktober prangt die Überschrift: „Why China is winning the trade war.“

Wie das denn? „Langsames Wachstum setzt Chinas Führung unter Druck“ (Der Spiegel), dachten wir. Junge Chinesen wollen nicht mehr so viel arbeiten. „Das wird zum Problem für die Kommunistische Partei“, ergänzt die FAZ in derselben Woche.

China ist so groß, dass es Beweise für alle widersprüchlichen Thesen liefern kann. Die in Deutschland vorherrschende China-Rezeption sieht die Führung in Peking seit mehr als 30 Jahren ununterbrochen „unter Druck“. Damit macht man ja keinen Fehler. Regierungen stehen in jedem System unter Druck – sogar Kim in Nordkorea. Zum besseren China-Verständnis trägt diese Sichtweise allerdings auch wenig bei.

Die andere Schule, vor allem auf der eigenwilligen Insel jenseits des Kanals beheimatet, traut sich dagegen immer wieder, eigenständige, differenziertere Thesen zu China zu äußern. Diesmal aber „übertrieb“ der Economist noch mehr: Zehn China-Artikel in einer einzigen Ausgabe – rekordverdächtig. Die breitgefächerte Themenauswahl erreicht sogar höhere Aktualität als viele Tageszeitungen.

Guter Journalismus überlässt nichts dem Zufall. Natürlich ist die Titelschlagzeile „China wins“ – samt dem Basketballer auf der Frontseite, der mit chinesischer Flagge auf dem Rücken höher springt als sein amerikanischer Gegenspieler – eine kalkulierte Provokation. Die Botschaft sollte in den Innenzirkeln des MAGA-Lagers ankommen. Ebenso beim Führungspersonal in Peking, das gerade den „15-5“, also den 15. Fünfjahresplan, verabschiedet hat. Die eigentliche Analyse fiel – wie es der Sachlage entspricht – deutlich ausgewogener aus. Den Schlusssatz, nicht mehr originell nach zehn Monaten Trump 2.0, kann man trotzdem nicht oft genug wiederholen: „And even as China is winning Mr. Trump’s trade war, the retreat from open commerce ultimately makes everyone a loser.“

Der vielleicht wichtigste Beitrag – gestochen scharf analysiert – befindest sich jedoch mittendrin. Ein zentrales Problem im anhaltenden amerikanisch-chinesischen Beziehungsdrama sei, so das Magazin, „the poverty of communication lines“ – das Fehlen funktionierender Back Channels, also persönlicher Verbindungen, die auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt beruhen. Der „Mangel an einem tiefgehenden Verständnis der politischen und wirtschaftlichen Systeme des jeweils anderen“ sei beiderseitig, aber stärker und widersprüchlicher auf Seiten der Vereinigten Staaten.

Wer auch immer im politischen Berlin das liest – hoffentlich nicht wenige – müsste sich fragen: Wie sieht es dann bei uns aus?

Zwei Nachrichten, die eine eindeutige Antwort geben, prallten gerade im Abstand von wenigen Tagen aufeinander:

Am 21. Oktober wurden die Handelszahlen für die ersten Monate 2025 verkündet – und siehe da: China ist wieder Deutschlands Handelspartner Nummer eins, was es schon von 2016 bis 2023 war.

Am 24. Oktober „verschob“ der deutsche Außenminister seine (erste) China-Reise, weil ihm für zwei Tage nur ein einziger Termin angeboten wurde – ein Treffen mit seinem chinesischen Amtskollegen. Natürlich sollten daran die Chinesen schuld gewesen sein. Der Spiegel lobte sogar „die mutige Entscheidung“ des Außenministers.

Gewiss ist „Mut“ in der Diplomatie wichtig – jedoch nur dann auch gut, wenn am Ende zählbare Ergebnisse herauskommen. Diese müssen nicht immer groß sein. Die Bundesregierungen von Helmut Kohl bis Angela Merkel konnten beispielsweise chinesischen Dissidenten und NGOs regelmäßig konkrete Hilfe bieten. Die jeweiligen Außenminister – ob von FDP, Grünen oder SPD – spielten dabei die Schlüsselrollen. Seit der Ära der „mutigen Rhetorik“ geschieht dagegen kaum noch etwas: Weder Besserung bei den großen Fragen noch bei den Einzelschicksalen.

Wer für eine zweitägige Dienstreise – 24 Stunden reine Flugzeit – nur einen Termin hat, sollte tatsächlich zu Hause bleiben. Die Entscheidung war also unvermeidbar. Beunruhigend ist allerdings, dass es überhaupt so weit kommen konnte – und dass danach große Ratlosigkeit herrschte.

„Back Channels“ heißen so, weil Vieles im Verborgenen stattfindet. Die Welt erfuhr zum Beispiel erst viel später, dass Brent Scowcroft, damaliger Nationaler Sicherheitsberater unter Präsident Bush senior, bereits im Juli 1989 – nur einen Monat nach Tian’anmen – in Peking Gespräche mit der chinesischen Führung führte, einschließlich Deng Xiaoping höchstpersönlich. Im Sommer 1989 herrschte die bis heute größte Krise zwischen China und dem Westen. Der komplette Bruch konnte – von Back Channel eingeleitet – verhindert werden. 1992 folgte bereits Dengs legendäre Reise nach Shenzhen. Damit trat Chinas Transformation in eine neue historische Phase ein.

Dem deutschen Außenminister und dem Bundeskanzler ist zu wünschen, dass sie trotz der kalten Schulter noch über funktionierende Kanäle verfügen, die von der größten europäischen Volkswirtschaft bis nach Peking führen. Faktisch jedoch fällt einem kaum ein Name ein, die oder der dafür in Frage käme. Das Fehlen geeigneter Vertrauenspersonen und gewachsener Erfahrungen ist ein kritischer Flaschenhals – für die USA genauso wie für Deutschland.

Vielleicht wäre der ehemalige Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt aus Hamburg ein möglicher Kandidat für eine solche heikle Mission. Immerhin konnte er in der vergangenen Regierung dem „moralisierenden China-Kurs“ (Gabor Steingart) der damaligen Außenministerin Einhalt gebieten.

Die chinesische Seite hat aber ihre „Hamburg-Verbindung“: Li Chengang, Vizeminister und Chinas Außenhandelsbeauftragter,  der in den Verhandlungsrunden Scott Bessent, den US-Finanzminister, regelmäßig zur Weißglut bringt, ist ein Deutschland-Kenner. Li studierte Ende der 90er Jahre in der Hansestadt Jura. Hat jemand in Berlin freundschaftlichen Kontakt zu ihm gehalten, BEVOR die bilaterale Beziehung in die Krise geschlittert ist?

Info:

Warum diese Kolumne Wan Hua Zhen heißt und wer der Autor dieser Zeilen ist, erfahren Sie hier: https://www.chinahirn.de/2024/07/08/was-bedeutet-wan-hua-zhen-der-kolumnist-erklaert-und-stellt-sich-vor/

No Comments Yet

Comments are closed