n Europa und speziell auch in Deutschland betrachtet man China seit einigen Jahren als systemischen Rivalen. Aber man benutzt diese Einschätzung oft nur als Schlagwort, als Worthülse ohne großen Inhalt. Man macht sich weder in der Wissenschaft und erst recht nicht in der Politik die Mühe, dieses andersartige chinesische System zu analysieren. Das ist zugegeben auch nicht einfach. Der Journalist Kaiser Kuo – in der amerikanischen China-Szene eine bekannte Größe – hat es in einem gerade erschienen Essay *The Great Reckoning“ versucht: „The system… is an extraordinary intricate allay of Confucianism, Leninism, technocratic authoritarism, state capitalism, and market mechanism.”
Nach westlichen Lehrbüchern dürfte es ein solches System gar nicht geben, weil dort steht, dass nur das Zwillingspaar Demokratie und Marktwirtschaft Wohlstand für ein Volks schaffen kann. Aber diese Annahme habe China widerlegt, sagt Kaiser Kuo, in dem er auf die Erfolge Chinas in den vergangenen Jahrzehnten hinweist:
- Rund 800 Millionen Menschen aus der Armut befreit;
- Die Lebenserwartung von 33 (1960) auf 78 Jahre (2023) erhöht;
- Fast alle Chinesen haben einen Hauptschulabschluss;
- Das Pro-Kopf-Einkommen stieg von 100 auf rund 13 000 Dollar.
Kaiser Kuo kommentiert diese Zahlen: „These are the hallmarks not of a failed state, but of a society, whose people are in many respects, flourishing as never before.”
China habe nie das westliche Modell übernehmen wollen, höchstens Teile davon. Es habe seinen eigenen Weg gesucht: „China’s quest was to find a path that could deliver wealth and power in a way both authentically Chinese and objectively effective.” Für Kaiser Kuo war China bei der Suche erfolgreich erfolgreich: “China appears to have found that path.“ China habe gezeigt, dass es eben nicht nur den westlichen Weg der Modernisierung gebe, sondern eben auch einen chinesischen. „Modernity itself is no longer the exclusive property of the West.” Das ist eine bittere Erkenntnis für viele Ökonomen und Politiker im Westen, von denen viele immer noch auf einen Kollaps des chinesischen Systems hoffen und spekulieren. Kaiser Kuo: “Waiting for its collapse is not a strategy; it’s a coping mechanism.” Und weiter: “The Great Reckoning is ultimately about intellectual honesty: the willingness to see the world as it is rather than as we wish it were, acknowledge achievement wherever it occurs, and learn from success even when it emerges from sources we find uncomfortable.”
Das Essay von Kaiser Kuo ist eines der besten Stücke, die ich jenseits des Schwarz-Weiß-Denkens in den vergangenen Jahren gelesen habe. Das Lesen der 14 Seiten lohnt sich für jeden, auch und gerade weil es auch zum Nachdenken über unser System anregt.
Info:
Hier der Essay von Kaiser Kuo in The Ideas Letter: https://www.theideasletter.org/essay/the-great-reckoning/