Erwartungsgemäß beherrschte am 3. September die große Militärparade in Beijing die internationalen Schlagzeilen. Ebenso erwartungsgemäß waren die Erkenntnisse – oder besser gesagt Nichterkenntnisse – die man im Westen daraus zog.
Ein „anti-westliches“ Bündnis unter chinesischer Führung sei im Entstehen; China rüste bedrohlich auf – sinnigerweise stets gepaart mit dem Hinweis, die Volksbefreiungsarmee (PLA) habe seit Jahrzehnten keinen Krieg mehr geführt. Und auch der obligatorische Hinweis fehlte nicht: Die Machtdemonstration solle von der tiefen Wirtschaftskrise im eigenen Land ablenken. Man fragt sich: Wann gab es in China eigentlich keine „Wirtschaftskrise“?
Es ist das gewohnt kritisch-skeptische China-Narrativ, das seit Jahren routiniert heruntergeschrieben wird. Währenddessen wuchs der Abstand zwischen China und Deutschland in immer mehr Bereichen – von Wissenschaft und Technologie bis tief in die Wirtschaft.
Einer sprach allerdings Klartext im Zusammenhang mit dem Spektakel: In einem bemerkenswerten Interview mit dem Newsportal t-online.de erklärte Eberhard Sandschneider: „Es verdeutlicht, dass Europas Abstieg in vollem Gange ist und der Rest der Welt sich nicht darum kümmert, was die Europäer noch gerne hätten oder sich wünschen.“
Zur moralischen Überlegenheit des Westens sagte er weiter: „Wenn wir eine ehrliche Bilanz ziehen, sitzen wir Europäer mit dieser Wertedebatte gewaltig im Glashaus. All diese kritischen Wertedebatten, die wir mit Ländern wie China geführt haben, haben den Menschen vor Ort am Ende nichts, aber auch gar nichts gebracht.“
Endlich spricht hier jemand aus, was viele in China – auch jene, die ihrem eigenen Staat gegenüber kritisch sind – schon lange denken.
Allerdings: Das von Sandschneider mehrfach erwähnte „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, mit Deutschland und Frankreich im Kern, ist auch keine wirklich überzeugende strategische Linie für die Herausforderung durch China. Die Idee ist nicht neu – und hat sich bislang kaum bewährt, nicht nur im Umgang der EU mit China. Warum also sollte sich das in den kommenden Jahren ändern, zumal die französische Wahl 2027 völlig offen ist?
Und doch kam ein bemerkenswerter Impuls – wie so oft – aus den Vereinigten Staaten. „The One Danger That Should Unite the U.S. and China“, schrieben Thomas L. Friedman und Craig Mundie (Autor von “Genesis: Artificial Intelligence, Hope, and the Human Spirit”, 2024) in der New York Times, ausgerechnet am 3. September. Der Beitrag war so ausführlich, dass die Audioversion 24 Minuten dauerte – länger als alle Berichte aus Beijing an diesem Tag zusammen.
Der Kommentarbereich der NYT musste bereits Stunden nach Veröffentlichung geschlossen werden, da die Obergrenze erreicht war. So rege waren die Reaktionen. Wie zu erwarten, gingen die Meinungen weit auseinander. Zwischen Zustimmung und Ablehnung überwogen die Zweifel: „Klingt sinnvoll, aber auch realistisch?“
Damit hatte Friedman sein Ziel schon erreicht, nämlich neue Denkanstöße zu geben, anstatt die Konfrontation weiter zu zementieren – was mehr als genug „Experten“ schon tun. Dabei brachte er einen Begriff ins Spiel, der, obwohl längst überfällig, bisher kaum so klar ausgesprochen worden war: Er plädierte für eine „trust architecture“, also eine Vertrauensarchitektur zwischen den USA und China, um die gemeinsame und sichere Nutzung von KI – weit über beide Länder hinaus – zu gewährleisten.
„Who will supervise A.I.?“ fragte er. Seine Antwort: die USA und China, in „co-opetition“, also durch Kooperation und Wettbewerb zugleich. Grundlage dafür sollte ein „China-America framework of trust“ sein. Gemeinsam mit Craig Mundie schlug er die Schaffung einer unabhängigen, neutralen Schiedsinstanz („trust adjudicator“) vor, die von beiden Ländern gemeinsam entwickelt und die in alle KI-Anwendungen eingebaut werden soll. „The goal is not perfection but a foundational set of enforceable ethical guardrails“, so Friedman.
Manche Leser dürften angesichts so viel Wunschdenkens gedanklich schon aussteigen. Friedman nahm diese Reaktion vorweg: „Before you dismiss this as unrealistic or implausible, pause and ask yourself: What will the world look like in five years if we don’t?“ Auch darauf gab er eine Antwort – in Form eines eigenen Albtraums: Ohne gemeinsame KI-Regulierung würden die USA 2030 nur noch Sojabohnen nach China exportieren, während aus China nur noch Sojasauce zurückkäme. Die Welt würde in zahlreiche Blöcke fragmentieren, die sich mit inkompatiblen und unberechenbaren KI-Standards gegenseitig ausschließen.
Wan Hua Zheng empfiehlt, diesen Friedman-Beitrag in Gänze zu studieren. Wan Hua Zheng verweist zusätzlich noch auf zwei Punkte – beide nicht neu, aber aktueller denn je in Zusammenhang mit dem Beitrag von Friedman:
Erstens: Wo ist Europa? Auch in Friedmans Szenario taucht Europa kaum noch auf. Ein Satz nur: „European Union regulation (for A.I.) alone will not save us.“ Wie wahr.
Zweitens: Friedmans Grundgedanke ist auch für uns von essenzieller Bedeutung. Europa und Deutschland brauchen im Umgang mit China eine eigene Vision der „Vertrauensarchitektur“, orientiert an größtmöglichen gemeinsamen Interessen. Ohne eine auf Grundvertrauen basierende strategische Linie – ob bei der KI-Regulierung oder der Bewältigung der Klimakrise – bleibt die China-Politik ein kurzfristiges, oft auch kurzsichtiges Nadelstich-Manöver, wie der deutsche Außenminister kürzlich in Japan und Indonesien demonstrierte. Die gescheiterte Politik seiner Amtsvorgängerin einfach so fortzusetzen, würde Deutschland noch mehr schaden.
Bitte Friedman lesen, lieber Außenminister Wadephul.
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Was Wan Hua Zhen bedeutet und wer der Autor ist, erfahren Sie hier: https://www.chinahirn.de/2024/07/08/was-bedeutet-wan-hua-zhen-der-kolumnist-erklaert-und-stellt-sich-vor/
Info:
Hier das Interview mit Eberhard Sandschneider in voller Länge: https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/aussenpolitik/id_100896700/china-xi-jinpings-parade-in-peking-was-das-fuer-deutschland-bedeutet.html
Und hier der Artikel von Thomas L. Friedman: „The One Danger That Should Unite the U.S. and China“: