POLITIK I Wer sind die Sieger, wer die Verlierer? Taiwan nach der großen Abberufungsbewegung / Von Gunter Schubert*

Taiwans „große Abberufungsbewegung“ ist endlich zu Ende. 24 Abgeordnete der oppositionellen Kuomintang (KMT) sollten ihr Mandat verlieren, weil sie angeblich eine zu große Nähe zur Führung in Beijing haben. Das behaupteten zivilgesellschaftliche Gruppen, die der regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (DDP) nahestehen und auf deren Initiative die Volksabstimmung zustande kam. Doch in der ersten Abstimmung am 26. Juli fand die Forderung nach einer Abwahl keine Mehrheit. Nachdem die zweite Runde am 23. August die Ergebnisse der ersten Abstimmung bestätigte – ohne dass ein einziger der Kuomintang-Abgeordneter abberufen wurde – ist es an der Zeit, die Debatten unter den Beobachtern zu analysieren und zu fragen, was diese Kampagne über Taiwans Demokratie verrät. War sie ein moralischer Sieg für die Zivilgesellschaft, ein Warnsignal für den Niedergang der Demokratie oder ein Beweis für die stabilisierende Weisheit der Wähler?

Seit der Abberufungsabstimmung im Juli haben sich drei wichtige Narrative herauskristallisiert. Das erste, das man als „trotziges“ Narrativ bezeichnen könnte, ist vor allem unter Akademikern und Parteianhängern der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) verbreitet. Diese Ansicht basiert auf der Überzeugung, dass die KMT Taiwan an China verkauft und dessen Demokratie untergräbt. Sie besagt, dass die Abberufung aller direkt gewählten KMT-Parlamentarier nicht nur legitim, sondern sogar für Taiwans Überleben notwendig war. Kritiker argumentieren, die KMT habe ihre Boshaftigkeit wiederholt unter Beweis gestellt, indem sie Gesetze durchpeitschte, die das politische System und Taiwans Verteidigungsfähigkeiten schwächen, und die Inselrepublik Xi Jinping auf dem goldenen Tablett serviert habe. Obwohl letztlich kein KMT-Amtsträger abberufen wurde, besteht diese Darstellung darauf, dass das Ergebnis die Anschuldigungen nicht widerlegt. Die Abgeordneten hätten ihr Überleben in ihren eigenen Wahlkreisen lediglich der Effizienz der KMT-Parteimaschinerie bei der Mobilisierung der Wähler zu verdanken. Dennoch stimmen die meisten Taiwaner dieser Interpretation zufolge weiterhin mit der Regierung überein, dass man der KMT nicht trauen könne und sie mit allen möglichen Mitteln geschwächt werden müsse. Vor diesem Hintergrund mag die „große Abberufungsbewegung“ ihr unmittelbares Ziel verfehlt haben – doch es gelang ihr, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Zum ersten Mal seit der Sonnenblumenbewegung schlossen sich Bürger zusammen, um der existenziellen Bedrohung durch die KMT Widerstand zu leisten. Dieses Erbe, so ihre Befürworter, werde die Taiwaner daran erinnern, dass sie vereint für ihre Zukunft kämpfen müssen. Daher beansprucht das „trotzige“ Narrativ den Sieg – nicht aufgrund des Erfolges der Abberufungskampagne, sondern aufgrund ihrer moralischen Legitimität und der Wiederbelebung des demokratischen Geistes Taiwans.

Die zweite wichtige Interpretation, das „pessimistische“ Narrativ, nimmt eine weitaus kritischere Haltung gegenüber der Abberufungskampagne ein. Ihr Ausgangspunkt ist die Erinnerung daran, dass Abberufungen dazu dienen, einzelne Politiker für Fehlverhalten oder Inkompetenz zu bestrafen, nicht aber um ganze Parteien oder gegensätzliche ideologische Positionen anzugreifen. Was rechtlich zulässig sein mag, ist nicht unbedingt politisch legitim. Die tiefere Sorge gilt jedoch Taiwans Parteiensystem selbst und seiner unerbittlichen Polarisierung. Da Legislative und Präsidentschaft von verschiedenen Parteien kontrolliert werden, sollte ein Kompromiss die natürliche Folge sein. Stattdessen ist Politik zu einem endlosen Nullsummenspiel geworden. Gegner werden als Feinde behandelt: KMT-Politiker werden als chinesische Kollaborateure diffamiert, während DPP-Führer als autoritär, ja sogar als angehende Nazis gebrandmarkt werden. Auch wenn diese Rhetorik teilweise strategischen Charakters ist, verstärkt sie Misstrauen und blockiert einen echten Dialog. Die Legislative steckt in einer Pattsituation fest, Regierungspartei und Opposition sind entfremdet, und Zusammenarbeit ist undenkbar. „Kein Vertrauen, kein Risiko, kein Kompromiss“ – das ist die Realität. Die „pessimistische“ Erzählung warnt daher davor, dass Taiwans Institutionen mit der Zeit erodieren werden, da sich die Bürger von ihrer eigenen Demokratie entfremden. Diese Lesart verortet Taiwan in einem breiteren globalen Trend des demokratischen Rückschritts, der in den Vereinigten Staaten, die lange als Taiwans Vorbild galten, am deutlichsten sichtbar ist. Aus dieser Perspektive war die „große Abberufungsbewegung“ kein Zeichen demokratischer Vitalität, sondern eines demokratischen Rückschritts: keine Gewinner, nur Verlierer und große Risiken für die Zukunft.

Schließlich gibt es noch eine dritte Interpretation, die man als „optimistisches“ Narrativ bezeichnen könnte. Sie betont die Weisheit der taiwanischen Wählerschaft als wahren Stabilisator des demokratischen Systems. Dieser Ansicht zufolge stellte die Abberufungskampagne eine gefährliche Übertreibung dar – einen Versuch, eine gewählte Parlamentsmehrheit mit außergewöhnlichen Mitteln zu stürzen. Die Wähler selbst erkannten dies und setzten dem entschieden ein Ende. Tatsächlich erhielten einige betroffene KMT-Abgeordnete bei der Abberufungswahl sogar mehr Stimmen als bei den Parlamentswahlen 2024 – ein deutliches Zeichen für die Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber parteipolitischen Exzessen. Dies deutet darauf hin, dass Taiwans Demokratie tief von unten nach oben verwurzelt ist und die Bürger es den politischen Eliten nicht erlauben werden, das System zu destabilisieren. So sehr die Parteien auch übertreiben mögen, das Volk wird letztlich dafür sorgen, dass die demokratischen Institutionen Bestand haben. Aus dieser Perspektive sollte das Ergebnis Vertrauen in die Widerstandsfähigkeit der taiwanischen politischen Kultur wecken.

Welches dieser Narrative erfasst Taiwans Realität am besten? Sozialwissenschaftler werden sie bald mit Umfragen und statistischen Analysen überprüfen. Mir scheint jedoch, dass diese Übung Gefahr läuft, den entscheidenden Punkt zu verfehlen. Alle drei Narrative sind auf unterschiedliche Weise Produkte einer dysfunktionalen politischen Praxis, die in einer politischen Kultur verwurzelt ist, die dringend einer kritischen Überprüfung bedarf. Damit eine Demokratie stark bleibt, müssen alle politischen Akteure bestimmte Regeln verinnerlichen. Andernfalls werden Wahlen, ein Parlament und Gewaltenteilung zu leeren Ritualen. Demokratisch gewählte Mehrheiten müssen respektiert werden. Kompromisse sind unvermeidlich. Verhandlungen und die Akzeptanz vorübergehender Niederlagen sind unabdingbar. Demokratische Tagespolitik darf niemals als Überlebenskampf betrachtet werden. Im Fall Taiwans ist ein Grundsatz besonders entscheidend: Die Bedrohung durch China darf nicht instrumentalisiert werden, um inländische Gegner zu delegitimieren. Denn diese Bedrohung ist für jeden Bürger und jede Partei real und erfordert deshalb eine einheitliche Reaktion. Wenn sich Taiwans politische Kultur nicht in Richtung Kompromissbereitschaft, Bescheidenheit und Respekt entwickelt, wird die Demokratie letztlich von innen erodieren – unabhängig davon, wie lebendig sie nach außen wirkt oder wie rational die Wähler im Wahlkampf erscheinen. Demokratie erfordert mehr als die Verfolgung parteipolitischer Ziele. Sie erfordert Politiker, die erkennen, dass ein Wahlsieg eine Verpflichtung zum Gemeinwohl mit sich bringt und nicht das Mandat, engstirnige Interessen durchzusetzen oder nur nach Vorteilen für die eigene Partei zu streben. Was auch immer die langfristigen Auswirkungen der „großen Abberufungsbewegung“ sein mögen, ein Fazit ist zumindest klar: An den Konsequenzen trägt China diesmal keine Schuld.

*Gunter Schubert ist Professor für Greater China Studies und Direktor des European Research Center on Contemporary Taiwan (ERCCT) an der Universität Tübingen. Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache im CommonWealth Magazine (Taiwan).

Info:

Unter anderem zu diesem Thema auch ein aktuelles Interview von Gunter Schubert mit Klaus Bardenhagen in dessen Taiwancast-Reihe: https://www.youtube.com/watch?v=z76BoqKe3Qg&list=PL9ojYMDeiZ6bpywAMECt86AR7tqVA7TRb&index=1

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