April 2004. Shanghai.
Ich durfte vor Michael Sommer einen Vortrag halten. Damals war er seit zwei Jahren Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) – und erstmals zu Besuch in China.
Zwei Gründe führten dazu, dass die Wahl auf mich fiel. Während meines Studiums in Köln war ich drei Jahre lang Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die diese Reise organisierte. Und ich war Personalchef für Bayer in China. Das gewünschte Vortragsthema – das chinesische Sozialversicherungssystem – kannte ich aus der Praxis. Bayer baute zu jener Zeit gleichzeitig sechs Joint Ventures in fünf chinesischen Provinzen auf.
Ich informierte die Konzernkommunikation in Leverkusen vorab über das Meeting. Die Antwort war kurz und knapp: „Er war noch nicht bei uns im W11. Viel Erfolg.“ W11 ist das Gebäudekürzel der Bayer-Zentrale. So war es damals – entspannt und unkompliziert. Dabei waren viele Themen, die heute stark aufgeladen sind – Taiwan, Tibet, Marktzugang, faire Rahmenbedingungen – auch schon damals regelmäßig Gegenstand heftiger Debatten zwischen China und Deutschland.
Michael Sommer war einer von zahlreichen deutschen Gästen, die ich während meiner China-Zeit kennenlernte. Doch diese Begegnung hatte eine besondere Bedeutung für meine Biografie.
Die Präsentation und anschließende Diskussion dauerten über eine Stunde. Herr Sommer war aufmerksam, interessiert und vor allem locker. Damit nahm er mir schnell die anfängliche Nervosität. Ich klagte über die stark steigenden Lohnnebenkosten. Er entgegnete: „Das sollten Sie – Bayer, BASF und so weiter – schon mitmachen und unterstützen. Die Arbeitskosten in China müssen steigen. Das ist gut für die Chinesen – und gut für Deutschland.“
Ein Fotograph hielt unsere Verabschiedung im Empfangsbereich des Bayer Hauptbüros in Shanghai fest. Im Hintergrund waren zwei Firmenlogos zu sehen: Bayer in Grün und Blau, Lanxess in Schwarz und Rot. Der Name Lanxess – die gerade ausgegründete Bayer-Chemiesparte – war vielleicht zwei Wochen alt.
Ich folgte einer spontanen Eingebung: „Haben Sie noch ein paar Minuten? Ich habe eine persönliche Frage.“ Wir gingen zurück ans Fenster, vor uns die Skyline von Shanghai. Ich sollte in Leverkusen Personalchef von Lanxess werden. Hatte ich überhaupt eine Chance? Ohne Kenntnisse im deutschen Arbeitsrecht, ohne Erfahrung mit Mitbestimmung, ohne je als Manager in einem deutschen Werk gearbeitet zu haben?
Das war sinngemäß meine „persönliche Frage“ an den obersten Gewerkschafter der Bundesrepublik. Lanxess, ein Sanierungsfall qua Geburt, hatte zum Start 20 000 Beschäftigte weltweit, davon die Hälfte in Deutschland. Ich sollte zwar noch im selben Monat im „W11“ meinen Vertrag unterschreiben, aber ich war unsicher.
Herr Sommer hörte sich meine Frage an, mit diesem leicht amüsierten Lächeln, das ihn oft begleitete. „Herr Liu, so gut kenne ich Sie nicht. Aber ich kenne auch keinen Ausländer als Personalchef im großen deutschen Unternehmen. Natürlich sollten Sie das Angebot annehmen. Arbeitsrecht, Mitbestimmung – dafür haben Sie Ihre Experten. Allerdings hören Sie nicht immer auf die Juristen.“ Den letzten Satz habe ich Jahre später erst richtig verstanden.
Ich begleitete ihn zum Aufzug. Er drehte sich nochmal zu mir: „Die deutschen Medien werden Sie schnell entdecken. Wenn Sie geschickt sind, können Sie dieses Interesse für Ihre Arbeit gut nutzen. Besuchen Sie mich gern in Berlin, ich habe viel Erfahrungen im Umgang mit Medien.“ Wieder schmunzelte er, als denke er gerade an eine bestimmte Szene daheim.
Ende April 2004 unterschrieb ich in Leverkusen.
Ich habe ihn später zweimal in der Berliner DGB-Zentrale am Hackeschen Markt besucht. Es waren die turbulenten ersten zwei Jahren von Lanxess, und zugleich mein beruflicher Anfang in Deutschland. Für Michael Sommer war es die schwierige Zeit der „Agenda 2010“. Herr Sommer hatte sich beide Male Zeit genommen, gab mir wertvolle Hinweise und Kontakte. Noch wichtiger: Er vermittelte mir ein erstes Verständnis für das komplexe Dreieckverhältnis zwischen Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik in Deutschland.
Er war in Berlin weniger locker als ich ihn in Shanghai erlebte. In China war er einfach Herr Michael Sommer. In Berlin hingegen der große DGB-Vorsitzende.
Michael Sommer starb am 30. Juni 2025 im Alter von 73 Jahren.