GESELLSCHAFT I Genervte Jugend flüchtet in Ausreden und kappt die Beziehungen zur Verwandtschaft

Hast Du einen Freund? Warum bist Du noch nicht verheiratet? Warum wollt ihr kein zweites Kind? Das sind Fragen, die viele junge Chinesinnen und Chinesen von ihren Eltern, Großeltern, Tanten und Onkels gestellt bekommen. Häufig hören sie dieses Fragen-Orgie beim Chinesischen Neujahrsfest, wo sich traditionell die gesamte Verwandtschaft trifft.  Die junge Generation nervt diese Fragerei zunehmend. Sie fühlt sich in ihrer Privatsphäre verletzt und entwickelt einige verbale Abwehrhaltungen. Eine wird yidu luanhui (已读 乱 回) genannt. Professor Andreas Guder übersetzt dies mit „schon gelesen, chaotisch antworten.“ Darunter versteht man, dass die Jungen auf die lästigen Fragen der Alten ausweichend-flapsig antworten. Zum Beispiel folgt der Frage nach dem Freund die Antwort: „Ja, mehrere.“ Oder die Frage „Wann wirst Du heiraten?“ wird so beantwortet: „Vielleicht um Mitternacht, oder auch vielleicht um die Mittagszeit.“ Sie geben also keine direkten Antworten auf die Fragen, sondern beantworten diese auf ironische Weise. „Yídu luanhui is a more passive way to defense intergenerational conflict“, heißt es in einem Artikel des Online-Magazins Sixth Tone, das sich mit diesem Phänomen auseinandersetzt. Die junge Generation, die in vielen Bereichen anders ticke, verlange zunehmend Privatsphäre. Das ironische Beantworten von lästigen Fragen ist dabei eine eher freundliche, aber trotzdem bestimmte Abwehrmaßnahme gegen die Aufdringlichkeiten der lieben Verwandten.

Es gibt freilich noch viel radikalere Gegenmaßnahmen. Die radikalste firmiert unter dem Rubrum duanqin (断亲). Duan heißt brechen, qin verwandt. Duanqin bedeutet also, dass man die Beziehungen zur Verwandtschaft kappt. Dieses Phänomen gibt es schon seit Jahren. Es nimmt von Jahr zu Jahr zu und ist inzwischen auch Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen. Auf zwei relativ neue Beiträge, die in Englisch vorliegen, möchte ich hier hinweisen. Zum einen schrieb Qi Yi (School of Foreign Studies, University of Science & Technology Beijing) den Aufsatz “New Urban Women Identity Construction and Rural Patriarchy Deconstruction: An Ethnographic Discourse Analysis of Duanyin”.  Sie kommt nach der Analyse von Online-Beiträgen von 18- bis 34-Jährigen zu dem Ergebnis, dass vor allem urbane, gebildete Frauen dem Phänomen duanqin unterliegen. Ruixia Han (Shanghai Jiao Tong University) untersucht in ihrem Beitrag „The impact of cultural perception on kinship disconnection of Chinese youth.” Ihr Ergebnis: “Cultural perception based on family-state values is the dominant factor influencing people’s tendency to disconnect.”

Info:

Der Artikel in Sixth Tone: https://www.sixthtone.com/news/1016705

Hier der Artikel von Qi Yi in Language and Society: https://www.language-and-society.org/wp-content/uploads/2024/12/Pages-from-LDS_2024_no_2_2024-11-26-8.pdf

Und hier der Artikel von Ruixia Han in Frontiers in Psychology: https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2023.1226742/full

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