WAN HUA ZHEN I Zwei richtige Weichenstellungen nach dem 3. Plenum / Von Liu Zhengrong*

Als das Dritte Plenum (das 3. Plenum des Zentralkomitees des 20. Parteikongresses der KPCh) vor zwei Monaten zu Ende ging, wurde das mediale Urteil im Westen von einem Wort bestimmt: „Enttäuschend“. „Spitzenkader ohne Reform-Eifer“, titelte beispielsweise die Süddeutsche Zeitung. Man hätte sich „mehr Konjunkturförderungsmaßnahmen“ gewünscht, ließ sich ein Vertreter der deutschen Auslandshandelskammer in China zitieren. Daraus wurde schnell die Schlagezeile: „Deutsche Unternehmen sind enttäuscht über Pekings Wirtschaftskurs.“

Das Dritte Plenum beschäftigt sich traditionell mit der Wirtschaftspolitik im weiteren Sinne. Chinas Wirtschaft steht vor einer wahren Zeitenwende. Darin sind sich die allermeisten Beobachter einig, einschließlich „der Chinesen“ selbst. „Wir müssen die Komplexität und Ernsthaftigkeit der aktuellen wirtschaftlichen Situation anerkennen“, schrieb kürzlich China Enterprise News, eine landesweite Zeitung, die zu der mächtigen SASAC gehört (Kommission zur Kontrolle und Verwaltung von Staatsvermögen / 国资委). Wer nach Beweisen sucht, dass China nun wirklich auf dem absteigenden Ast sei, könnte in diesem Sommer fast wöchentlich Zahlen entdecken, die genau dies zu bestätigen scheinen.

Ihr Kolumnist meint hingegen: Es ist richtig, kein neues Konjunkturprogramm nach dem jüngsten 3. Plenum aufzulegen. Stattdessen werden jetzt – endlich! – einige harte Themen angegangen. Diese werden kurzfristig kaum Entlastung für den Druckkessel bringen. Langfristig jedoch erhöhen sie die Erfolgschance, dass China die neuerliche Runde der Transformation meistern könnte.

Zwei prominente Beispiele:

Erstens, das Renteneintrittsalter wird angehoben! Der entsprechende Beschluss des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses wurde am 13. September veröffentlicht: „Über die Umsetzung der schrittweisen Verschiebung des gesetzlichen Rentenalters“. Das Wort „Verschiebung“ zeigt, dass man sich die Brisanz der Entscheidung offensichtlich sehr bewusst war.  Die Rente mit 50 (bei Frauen in gewerblichen Berufen) – eine Regelung aus den Anfängen der Volksrepublik und längst eine Absurdität im globalen Vergleich – wird damit ab 2025 wohl vorbei sein. Auch nach der Reform, die bis 2039 einen sanften Übergang von 15 Jahren vorsieht, werden die neuen Grenzen von 55 bzw. 58 Jahren bei den Frauen und 63 Jahren bei den Männern weiterhin unter dem aktuellen OECD-Durchschnitt liegen. Dabei werden viele der OECD-Länder ihrerseits die Altersgrenzen bis 2040 weiter anheben müssen.  

 Das Vorhaben fand bereits Eingang in das Abschlussdokument des 3. Plenums des 18. Parteikongresses, war also bereits im Jahr 2013 in der Diskussion. Die Anhebung des Rentenalters ist überall auf der Welt unpopulär. Die Sorgen bzw. die Scheu vor politischen und gesellschaftlichen Risiken existiert also nicht nur in Berlin oder Paris. Auch Chinas vermeintlich rücksichtslos durchregierender Zentralstaat schiebt unangenehme Entscheidungen manchmal vor sich her.    

Vielleicht wäre 2013 oder 2018 der bessere Zeitpunkt gewesen für China. Hinterher ist man immer schlauer. Auch jetzt gäbe es Argumente, die wir zur Genüge aus der jahrzehntelangen Debatte gegen eine Anhebung des Renteneintrittsalters in Deutschland kennen. Festzuhalten bleibt jedoch, wenn die Rente mit 67 (mit Differenzierungen) für Deutschland richtig ist, dann ist die Rente mit 58 bzw. 63 (ebenfalls mit Differenzierungen) erst recht richtig für China.  

Zweitens, das flächendeckende Hukou-System steht vor dem Aus! Der „Fünfjahresaktionsplan für die Umsetzung der neuen Urbanisierungsstrategie“ (国务院 新型城镇化战略五年行动计划)  wurde Anfang August vorgestellt, ganz im Sinne der Vorgaben des 3. Plenums. China kennt kein Kastensystem wie Indien, hat dafür aber einen quasi-Ersatz in seiner Hukou-Praxis. Hukou, frei übersetzt, bedeutet Haushaltsregistrierung. Welche Hukou eine Person besitzt, ob die städtische oder die ländliche, unter den städtischen wiederum ob Shanghai/Peking oder von einer gewöhnlichen Großstadt in der Provinz, entscheidet über den Zugang zu Kita, Schulen, Wohnungen und Arbeits- und Heiratsmarkt, und damit das ganze Leben. Hukou ist die Lebenslotterie per Geburt. Mehr noch als die Erhöhung des Rentenalters war die Reform des Hukou-Systems länger präsent in der chinesischen Politik, aber immer nur als eine Absichtserklärung. Mit dem neuerlichen “Fünfjahresaktionsplan” nahm die Umsetzung konkrete Gestalt an. Professor Yao Yang von der Peking Universität und Chef der National School of Development (国家发展研究院) skizziert eine Drei-Teilung bei der Einführung: praktische Abschaffung des Hukou-Systems in Städten bis zu 3 Millionen Einwohnern. Städte mit über 5 Millionen Einwohnern (um die 20 Städte fallen darunter) führen dagegen ein Punktesystem ein, um die inländische Migration ähnlich zu steuern wie Kanada und Australien mit ihrer Einwanderungspraxis. Dazwischen, typisch chinesische Politik, bildet sich eine Policy-Pufferzone für mehr experimentelle Lenkung, je nach Regionen.Der ehemalige chinesische Finanzminister Lou Jiwei sprach in einer veröffentlichten Rede im Juli: „Wenn die Haushaltsregistrierung nicht mehr zwischen städtischen und ländlichen Gebieten unterscheidet, kann die rund 200 Millionen starke Landbevölkerung, die derzeit in den Städten ohne dazugehörige Hukou lebt, beruhigter konsumieren, Häuser kaufen und einen Arbeitsplatz finden, was einen großen Nachfrageschub schaffte.Wer skeptisch bleiben will, kann jetzt viele Fragen stellen, zum Beispiel: Wer kauft jetzt noch eine Wohnung? Oder: Wie kommt die städtische Versorgungsinfrastruktur mit der dann legitimierten inländischen Zuwanderung zurecht?” Nun, weder ein höheres Rentenalter noch die Hukou-Reform sind Allheilmittel, die es allein richten können. Klar ist aber, allein diese beiden Initiativen, wenn richtig umgesetzt, werden die Grundstatik der chinesischen Gesellschaft nachhaltig verändern. China braucht nicht noch mehr Bazooka, sondern solche mühsamen, langfristigen und zeitweise unpopulären “Strukturreformen”.Im Übrigen: Kritiker zogen bei ihren Bewertungen diesmal oft die Vergleiche mit dem “historischen” 3. Plenum des 11. bzw. 14. Parteikongresses (1978 bzw. 1993). Wer die damaligen Dokumente liest, stellt sogleich fest, dass diese genauso in einer für die westlichen Augen und Ohren befremdlichen Parteijargon geschrieben wurden. Was 1978 und 1993 tatsächlich “historisch” machte, waren im Rückblick die lebendigen und lebensnahen Umsetzungen in den darauffolgenden Jahren. Geholfen hatte dabei eine grundsätzliche politische Kontinuität über die Jahrzehnte. Gemessen daran sind wir weit davon entfernt, das jüngste 3. Plenum qualitativ einzuordnen. Die ersten Weichen sind von Realismus und Ehrlichkeit geprägt, und deshalb gut.

*Hier mehr über die Kolumne und den Autor: https://www.chinahirn.de/2024/07/08/was-bedeutet-wan-hua-zhen-der-kolumnist-erklaert-und-stellt-sich-vor/

Info:

Hier der Gesetzestext und Kommentare zur Erhöhung des Renteneintrittsalters im NPC Observer: https://npcobserver.com/2024/09/china-npc-raise-retirement-age/?utm_source=substack&utm_medium=email

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