WAN HUA ZHEN I Das technologische Schisma – Die Kolumne von Liu Zhengrong

Am 21.Juni stellte der High-Tech-Konzern Huawei auf der „2024 Huawei Developer Conference“ in Dongguan die Beta-Version ihres „Harmony (鸿蒙) OS Next“ der Öffentlichkeit vor. Darüber, ob die Verkündung zufällig auf den Tag der Sonnenwende fiel, kann nur spekuliert werden. Was allerdings zunächst wie eine schlichte Branchennachricht für die IT-Industrie daherkam, dürfte sich im Nachhinein als eine wahre Zeitenwende entpuppen: die Zementierung des globalen technologischen Schismas, selbst eine Folge der Geopolitik, könnte nun ihrerseits die Geopolitik prägen und treiben.

Harmony OS Next (OS = operating system) ist ein von Huawei selbst entwickeltes Betriebssystem, das alles verbindet. In der mobilen Welt ist es mit der jetzt vorgestellten Beta-Version völlig unabhängig von Apples iOS und wichtiger noch, auch von Googles Android. Es wird gemutmaßt, dass die kommerzielle Einführung mit dem für das vierte Quartal geplanten Verkaufsstart von Huawei Mate 70 einhergehen könnte.

Huawei-Vorstand Yu Chengdong sagt stolz: „Huawei hat in zehn Jahren das erreicht, wofür seine Wettbewerber in Europa und Amerika mehr als 30 Jahren gebraucht haben, nämlich einen umfassenden Durchbruch zu erreichen in der Kerntechnologie eines unabhängigen und (von uns selbst) kontrollierbaren Betriebssystems.“ Wobei der Hinweis auf „Europa“ eher der Floskel geschuldet als der Wirklichkeit. Europa hat nämlich keine eigene Technologie für die Grundarchitektur ihrer gesamten digitalen Wirtschaft. Chinesische Tech-Giganten hatten lange Zeit ebenso wenig Interesse verspürt, die systemische Eigenständigkeit anzustreben.

Der Ursprung des HarmonyOS ging auf den Boom des „Internet of Things“ (IoT) von vor rund zehn Jahren zurück. IoT war in Deutschland vor allem bekannt unter „Industrie 4.0“ – was heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Damals jedoch dominierte „Industrie 4.0“ die täglichen Schlagzeilen ähnlich wie KI heute, ohne dass viele wirklich verstanden hatten, worum es ging.

Huawei fing bescheiden mit dem auf Linux basierten „LiteOS“ an, vorgestellt im Jahr 2015. Weil die erste Version gerade mal 10 KB groß war, wurde sie als „das kleinste Betriebssystem im IoT Universum“ belächelt. Huawei betonte damals, dass der Neuling nicht als Konkurrenz zu Android und iOS konzipiert war. Das ist insoweit glaubhaft, weil die Eigenentwicklung nicht nur ausgesprochen rudimentär war gegenüber dem Appel-Google Duopol. Auch die – im Vergleich zu heute – entspanntere geopolitische Lage am Ende der Obama-Präsidentschaft trug dazu bei. Die sündhaft teure Eigenentwicklung eines neuen Betriebssystems war wirtschaftlich nur schwer zu rechtfertigen. Zudem stand mit Linux ein scheinbar apolitisches, deshalb neutrales Open Source System verlässlich zur Verfügung.

Als Alibaba 2015 versuchte, Android mit einem eigenen neuen System namens „YunOS“ strategisch zu attackieren, zogen bezeichnenderweise weder Huawei noch Xiaomi mit. Stattdessen forcierten die großen chinesischen Marktteilnehmer ihre Partnerschaft mit Android. YunOS verschwand in der Folge.

Aus ähnlichem Grund war Europa nie ernsthaft nah an einem europäischen Betriebssystem, trotz vieler Sonntagsreden über technologische Eigenständigkeit oder zumindest technologisches Mitspracherecht Europas.

2019 kam Huawei mit der ersten Generation des HarmonyOS auf den Markt. Da war die erste US-Sanktionsrunde gegen Huawei bereits in Kraft getreten. Trotzdem setzte das Unternehmen weiter auf Kompatibilität von HarmonyOS und Android. Sogar die eigenen Endgeräte von Huawei bevorzugten Android per Werkseinstellung. Yu Chengdong bekräftigte damals, HarmonyOS sei weiter nur eine Systemplattform für IoT-Anwendungen. Sollte jedoch Android eines Tages nicht mehr für Huawei zugänglich werden, fügte er hinzu, stünde HarmonyOS als Ersatz bereit. Echte Begeisterung für eine Eigenentwicklung hört sich anders an.

Die geopolitische Realität holte Huawei bekanntlich viel schneller ein. Das amerikanische Verbot von Google Apps auf Huawei -Endgeräten löschte binnen eines Jahres nahezu das komplette internationale Endkunden-Geschäft von Huawei Smartphones aus. Parallel dazu kam das fast vollständige Verbot von Chip-Lieferungen. Weniger bekannt war dagegen die Schockwelle durch ein White Paper von „The Linux Foundation“ im Juli 2020: „Understanding Open Source Technology & US Export Control“. Eigentlich zielte das Papier, das beim Erscheinen gleich schon die chinesische Übersetzung mitlieferte, auf Beruhigung der Open Source Community vor allem in China. Das Gegenteil trat aber ein: Denn die darin enthaltenen zahlreichen “Wenns und Abers”, die peniblen textlichen Unterscheidungen zwischen “bis heute” und “zukünftig” alarmierten die bereits verunsicherte chinesische Tech-Branche zusätzlich.

打铁还需自身硬 –  ”The metal itself must be hard to be turned into iron,“ ein altes chinesisches Sprichwort macht die Runde auf diversen Tech-Symposien. Schnell wurde klar, dass nur ein Unternehmen in China technologisch in der Lage wäre, diese Herausforderung zu stemmen, wenn überhaupt: Huawei.

Nun ist HarmonyOS kurz vor der Markteinführung. Es sollte, wenig überraschend, zunächst nur in China starten. Trotz der blumigen Marketingsprache und demonstrativen Zuversicht ist damit zu rechnen, dass noch Zeit vergehen wird, bis die Leistungskennziffern und Nutzerfreundlichkeit des neuen Systems wirklich zu iOS und Android aufschließen können.

Wichtiger noch als die technische Robustheit ist der Aufbau des Ökosystems. Denn ein eigenständiger Unterbau eines OS zu schaffen, so schwer er ist, kann nur der erste Schritt sein. Entscheidender ist, wie viele Anwendungen auf diesem neuen Betriebssystem für den Benutzer verfügbar sind. Apple und Google haben jeweils Millionen Apps, während auf Harmony laut eigenen Angaben derzeit gerade mal 1500 laufen. Huawei zitiert eigene Studien, wonach die Top 5000 Apps in China mehr als 99% der Nutzerzeit ausmachen. Auch daran gemessen hat “HarmonyOS” noch einen langen Weg vor sich. Die Zusammenarbeit mit Prozessorherstellern, Geräteherstellern und Entwicklern brauchte schon in der Hochphase der Globalisierung sehr viel Zeit. Der massive Vorsprung in der mobilen Welt durch iOS und Android basiert auf dekadelangen Erfahrungen. Sogar Tech-Giganten wie Microsoft kapitulierten vor deren Übermacht.

Schafft nun Huawei das Unmögliche?

Die Chancen stehen nicht schlecht. Denn der gleiche Grund, nämlich die nationale Sicherheit und die Geopolitik, der Huawei zunächst an den Rand seiner Existenz brachte, dürfte ihm nun zugutekommen. Die Ironie der Geschichte ist dabei: Erst die schrillen Warnungen vor Huaweis Gefährlichkeit haben Chinas Eliten aufgeweckt und aufgeklärt, dass in Wahrheit sie selbst in einer deutlich prekären Lage steckten. Während harte Beweise gegen Huawei bis heute in der Öffentlichkeit fehlen, waren Chinas strategische Risiken durch die technologische Abhängigkeit hinlänglich bekannt, jedoch wenig beachtet.

“缺芯少魂“ – „Ohne (eigene) Chips, Ohne (ein eigenes) OS“ – diese vier Worte wurden zu einem bekannten Wortspiel im chinesischsprachigen Raum. Sie fassen die lange „übersehene“ Misere griffig zusammen.

Es mag sein, sagen sich immer mehr Chinesen, dass Alibaba (früher mal) mit Amazon ebenbürtig war, oder dass BYD heute mehr Autos verkaufen als Tesla es kann. Aber all diese vermeintlichen Erfolge stünden letztlich doch auf tönernen Füßen, weil die technologische Basis dafür nicht indigen ist. Insofern bedarf es wenig Fantasie vorherzusehen, dass HarmonyOS recht zügig Android und iOS in China verdrängen wird. Es dürfte losgehen mit allen Endgeräten der Behörden und Staatsunternehmen. „Nationale Sicherheit“ zu politisieren ist schon immer reziprok gewesen. Das allein würde den Aufbau des Harmony-Ökosystems erheblich beflügeln. Infolgedessen wird auch ein Teil der privaten Verbraucher wechseln, in einem Markt mit mehr als eine Milliarde Mobilinternetnutzern. Ob es zu einem faktischen Wechselzwang für alle kommen könnte, hängt noch von der generellen Entwicklung der amerikanisch-chinesischen Beziehung ab. Mit HarmonyOS ist erstmals die technische Voraussetzung dafür geschaffen worden.

Im Übrigen, unter „Endgeräten“ sind keinesfalls nur Smartphones gemeint. Fast alle Smartgeräte, einschließlich moderner Autos, gehören dazu. So gesehen ist die Absichtserklärung zum Datenaustausch (im Bereich des autonomen Fahrens), welche Verkehrsminister Volker Wissing während seiner jüngsten Beijing-Reise mit China unterschrieben hat, schlichtweg notwendig. Mehr als ein erster Schritt war es allerdings auch nicht, damit die Interessen Deutschlands nicht ganz untergehen im Positions- und Positionierungskampf der beiden größten Volkswirtschaften. Die anschließenden politischen Scharmützel in Berlin zeugen leider von Unkenntnis der Thematik. Elon Musk war schon Ende April in Peking wegen der Zulassung seines Tesla-FSDs in China. Die Modalität zur Datenspeicherung war genauso der Zankapfel gewesen. Europa rennt schon wieder hinterher.

Apropos Europa: Chinas Schwäche beim Betriebssystem ist genauso auch Europas Schwäche. Das wissen alle in Washington, egal für welche Administration sie arbeiten. Der Unterschied ist nur, manche halten es für einen Grund mehr, warum Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika zusammenstehen. Manche andere freuen sich womöglich über das Drohpotential für irgendeine Handelsstreitigkeit.

Nach diesem November wissen wir mehr. 

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