GESELLSCHAFT I Wandel durch Annäherung: Küssen in China

„Did Chinese Kiss?“ lautete die Überschrift eines Artikels im Online-Magazin Sixth Tone, der nicht zufällig kürzlich am Valentinstag erschienen ist. Sicher gibt es wichtigere Fragen, aber zwischendurch kann man sich auch mal den schönen Dingen des Lebens zuwenden. Die Frage hat einen berechtigten Hintergrund – behauptetet doch der kanadische Anthroposoph Marcel Danesi in seinem 2013 erschienen Buch „The History of Kiss“, dass der Kuss „not part of the courtship tradition of China or Japan“ war, dass das am häufigsten verwendete chinesische Wort für Küssen gar seinen Ursprung im Ausland habe. Diese These provozierte Widerspruch. Der Literaturwissenschaftler Hu Wenhui konterte im vergangenen Jahr mit dem Werk „A History of Kiss in China“. Er enthüllt darin, dass Küssen schon in der Han-Zeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) verbreitet war. Das würden Wandmalereien, aber auch schriftliche Überlieferungen beweisen. Auch später in der Tang-, Song-, Ming- und Qing-Zeit sei der Kuss immer wieder in der Literatur aufgetaucht, allerdings unter verschiedenen Bezeichnungen. Am geläufigsten ist jiewen (接 吻), aber auch qinzui (亲 嘴) und zashe (咂 舌) finden sich. Das Küssen fand lange Zeit in China im privaten Bereich statt. Küssen in der Öffentlichkeit war eher verpönt. Erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts küssten sich Paare als Akt der Befreiung öffentlich. In der Mao-Zeit erfolgte wieder ein Rückschritt. Küssen wurde als dekadent und kapitalistisch gebrandmarkt. Noch 1979 löste das Foto einer Kuss-Szene aus dem englischen Film The Slipper and the Rose im Magazin Popular Cinema wüste Proteste der Bürokraten aus. Waschkörbe voller Leserbriefe erreichten die Redaktion. Doch siehe da: Zwei Drittel der Briefeschreiber fanden die Kuss-Szene nicht anstößig. Kurze Zeit später war der Kuss sozusagen rehabilitiert. In dem Film Romance on Lushan Mountain kam es zur ersten Kuss-Szene im chinesischen Nachkriegs-Kino. Die Schauspielerin Zhang Yu war damals die Küssende. Noch 30 Jahre später bekannte sie: „I was so nervous. I couldn‘t find his lips.“ Inzwischen haben Chinesinnen und Chinesen diese Orientierungsschwierigkeiten überwunden. Geküsst wird in aller Öffentlichkeit – wie im Westen. Hier hat also Wandel durch Annäherung geklappt.

Info:

Hier der Artikel „Did Chinese Kiss?“ in Sixth Tone: https://www.sixthtone.com/news/1014635

Hier mehr Informationen über das Buch von Hu Wenhui (in Chinesisch): https://book.douban.com/subject/36398622/

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