Es ist 16 Uhr. Wie jeden Tag um diese Zeit begibt sich Karen Sun (26) in die Küche, um das Essen für sich und ihre Eltern vorzubereiten. Gegen 17 Uhr kommen ihre Eltern von der Arbeit. Sie dagegen hat keinen Job. Deshalb managt sie den Haushalt ihrer Eltern. Karen ist eine sogenannte „Full-time-daughter“. Sie wohnt bei ihren Eltern, arbeitet für ihre Eltern und wird dafür von ihnen bezahlt. Sie ist kein Einzelfall. Das Phänomen der “Full-time-children“ ist relativ neu. Im sozialen Netzwerk Douban erschien erstmals 2022 der Hashtag „full time sons and daughters“. Beim Konkurrenten Xiaohongshu hat sich eine Gruppe mit dem Namen „full-time children‘s work communication center“ gebildet. In vielen, vor allem ausländischen Medien – von BBC über CNN bis NBC – erschienen Stories über diese erwachsenen Kinder, die für ihre Eltern arbeiten.
CNN berichtete zum Beispiel über die 21jährige Litsky Li, die in Luoyang (Henan) zuhause für ihre Eltern und ihre demente Großmutter sorgt. Sie bekommt dafür ein Salär von 6000 Yuan (rund 770 Euro). Sie arbeitete als Fotografin und sagt: „I can‘t bear the pressure of going to school or work. I don´t want to compete intensely with my peers.” Druck im Job ist eine der Erklärungen, warum Kinder lieber zuhause putzen, einkaufen und kochen. Viele aus dieser Generation der 20jährigen erleben erste Symptome eines frühen Burnouts und wollen deshalb raus aus dem Hamsterrad des eigentlich noch jungen Berufslebens. Für diese Entwicklung stehen auch die Bewegungen des „lying flat“ (tang ping) oder das Aufbegehren gegen das „996“-Arbeiten, also schuften sechs Tage die Woche von 9 bis 21 Uhr.
Aber – und das ist nur eine Vermutung – der Großteil der „Full-time-children“ ist aus einem anderen Grund zuhause: Sie würden gerne arbeiten, aber finden keinen Job. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Die letzte Zahl stammt aus dem Sommer vergangenen Jahres, als 21 Prozent arbeitslose Jugendliche gemeldet wurden. Experten gehen von höheren Zahlen aus. Darunter fallen entlassene junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. So wurde vor allem in der Internet-Industrie, aber auch in der Tutoren-Branche in den vergangenen Jahren kräftig gesiebt. Aber das Heer der jungen Arbeitslosen wird jedes Jahr um viele Hochschulabsolventen erweitert. So verließen im vergangenen Jahr 11,6 Millionen Studierende Unis im In- und Ausland. Viele von ihnen suchten vergeblich eine Stelle.
Karen Su ist ein Beispiel einer jobsuchenden Uniabgängerin. Sie hat einen Bachelor und Master einer australischen Uni, versucht aber bislang vergeblich, einen adäquaten Job zu finden. Über 300 Bewerbungen hat sie geschrieben, darunter an Firmen wie Budweiser, Nestlé und Siemens. Stets bekam sie Absagen. Jetzt will sie sich um einen Beamtenjob bewerben. Dazu muss sie aber ein Examen, guokao (国 考), bestehen. Darauf bereitet sie sich neben ihrer Hausarbeit vor. Doch die Chancen, einen solchen sicheren Job zu ergattern, sind nicht gerade rosig. Vergangenen Herbst bewarben sich 2,83 Millionen Chinesinnen und Chinesen auf gerade mal 39 000 Stellen. Das ist eine Erfolgsquote von gerade mal 1,4 Prozent.
Info:
Hier ein elfminütiger Film über das Leben als „Full-Time-Child“:
Ein BBC-Artikel: https://www.bbc.com/news/world-asia-china-66172192
Und ein CNN-Beitrag: https://edition.cnn.com/2023/07/26/economy/china-youth-unemployment-intl-hnk/index.html