China Hands wurden im 19. Jahrhundert die wenigen Ausländer genannt, die sich in China auskannten, dessen Sprache und Kultur verstanden- oder zumindest so taten. Später wurden daraus Old China Hands, Leute mit 20 oder von mehr Jahren Erfahrung im Reich der Mitte. Es gibt aber auch zunehmend junge Leute, die sich intensiv mit China beschäftigen, die aber oft nicht zu Wort kommen. Deshalb werde ich neben Old China Hands auch Young China Hands vorstellen – auch wenn Letzteres per definitionem ein Widerspruch ist. Heute stelle ich aber keine Old China Hand vor, sondern eine – zweifelnd, ob es diesen Begriff überhaupt gibt – Old Taiwan Hand vor: Stephan Thome (51).
Gerade ist Stephan Thome auf Heimaturlaub bei seinen Eltern im oberhessischen Biedenkopf. Aber am 8. Januar geht es wieder zurück nach Taiwan, seiner zweiten Heimat. Insgesamt 15 Jahre seines Lebens verbrachte Stephan Thome bislang auf der Insel. Seit 2014 lebt er – inzwischen mit einer Taiwanerin verheiratet – permanent in Taiwan. Er sagt: „Es gibt nicht viele Deutsche, die sich in Taiwan besser auskennen.“ Der Weg zum Taiwan-Experten fing in den 90er Jahren an. An der FU Berlin studierte Thome damals Philosophie und wunderte sich, warum dort nur westliche, aber keine fernöstlichen Weltanschauungen gelehrt wurden. Er wollte aber über Letztere mehr wissen, bewarb sich bei der Krupp-Stiftung um ein Stipendium für Nicht-Sinologen an der Nanjing Uni und bekam es. 1995/96 war er für ein Jahr dort. Es sei ein sehr schwieriges und bereicherndes Jahr gewesen, sagt Thome und stuft es „rückblickend als ein Wendepunkt in meinem Leben“ ein. Zurück in Berlin nahm er Sinologie als Nebenfach. Bald – 1997/98 – folgte schon das nächste Stipendium, diesmal vom DAAD in Taiwan. Und so schlitterte er dem chinesisch-taiwanesischen Expertentum entgegen. Dem Abschluss als Magister folgte die Promotion und 2005 der Wechsel nach Taiwan, wo Thome am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academica Sinica forschte.
Schon 2000 schrieb er einen ersten Roman, in dem er seine jungen Erfahrungen auf Taiwan verarbeitete. „Das war ein typischer Erstling“, urteilt Thome selbstkritisch. Er fand keinen Verlag. Und auch seinen zweiten Versuch – diesmal ein Roman, der in Berlin spielte – ereilte 2004 dasselbe Schicksal. Doch Thome gab nicht auf. 2009 erschien „Grenzgang“ und wurde ein großer Erfolg. Da sitzt jemand in einer asiatischen Metropole und schreibt über die oberhessische Provinz. Schräg, oder? Thome sieht es nicht so: „Ich wurde in der Fremde oft gefragt, woher ich komme. Irgendwann habe ich mich das auch selbst gefragt. So habe ich mich literarisch aus der Ferne mit meiner Heimat beschäftigt.“ Im Dreijahres-Rhythmus folgten zwei weitere Romane: „Fliehkräfte“ (2012) und „Gegenspiel“ (2015). Thome hatte sich als Chronist der deutschen Mittelschicht etabliert.
Doch dann teilte er seinem Agenten mit, er wolle einen historischen Roman über den Taiping-Aufstand in China in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schreiben. Dessen Urteil war harsch: „Das ist Selbstmord, du verlierst alle deine Leser.“ Thome blieb hartnäckig: „Es war ein bewusster harter Bruch, auf den ich einfach Lust hatte.“ Er hatte das Buch „Autumn in the Heavenly Kingdom“ von Stephen R. Platt gelesen: „Das hat mich so begeistert, dass ich sagte, darüber will ich einen Roman schreiben.“ Auch „Gott der Barbaren“ (2019) wurde ein Erfolg – ebenso wie drei Jahre später „Pflaumenregen“. Es ist Thomes erster Roman über das Land, in dem er lebt, das seine zweite Heimat ist. „Seit ich in Taiwan bin, interessiert mich das Thema der taiwanesischen Identität.“ In diesem Buch hat er die Suche anhand einer taiwanesischen Familie verarbeitet.
Was ist für ihn die taiwanesische Identität? Taiwan habe anders als China keine lange mythische Herkunft. Das Land sei wechselnden Regimen und wechselnden kulturellen Einflüssen – europäischen, chinesischen, japanischen und indigenen – ausgesetzt gewesen. Seit einigen Jahrzehnten versuche man, daraus etwas Neues, so etwas wie eine Einheit zu formen. Die Demokratie sei dabei ein wichtiges Moment. Viele Taiwanesen würden die Nichtanerkennung durch den großen Rest der Welt als Kränkung empfinden. Gleichzeitig sehen sie realistisch, dass eine Unabhängigkeit von China mit einem militärischen Angriff beantwortet würde. Über diesen Dauerkonflikt mit dem großen Nachbarn hat Thome soeben sein neuestes Buch geschrieben. Das Manuskript ist fertig. Es zirkuliert zwecks Begutachtung gerade bei Experten. Im März wird es lektoriert. Im Herbst erscheint es dann bei Suhrkamp unter dem Titel: „Schmales Gewässer, Starke Strömung: Der Konflikt in der Taiwanstraße“. Es wird Thomes erstes Sachbuch.
Quasi nebenbei hat er in Pandemiezeiten noch einen Kriminalroman geschrieben. Er heißt „Die Spiele“ und spielt in Shanghai. Er erscheint allerdings unter einem anderen Namen – Stephan Schmidt – und erscheint nicht bei Suhrkamp, sondern bei DuMont. Warum? „Bei Suhrkamp meinte man, ein Krimi verwische meinen Markenkern“, erklärt Thome und zeigt sich leicht amüsiert: „Ich wusste gar nicht, dass ich einen Markenkern habe.“
Info:
Neben den Romanen Grenzgang, Fliehkräfte, Gegenspiel, Gott der Barbaren und Pflaumenregen hat Thome auch ein Buch über Taiwan geschrieben: Gebrauchsanweisung für Taiwan, 224 Seiten, Piper, 16 Euro. Demnächst (am 13. Februar) erscheint unter Stephan Schmidt sein erster Kriminalroman: Die Spiele, DuMont, 416 Seiten, 24 Euro.
Mehr über Stephan Thome kann man in diesen zwei Interviews erfahren. Zum einen im Tagesgespräch im SRF: https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/stephan-thome-alle-reden-ueber-taiwan-besser-dort-nachfragen?id=12243993
Zum anderen in Lesart von DLF Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/stephan-thomes-taiwanroman-pflaumenregen-ein-anderer-blick-100.html